Skip to main content
Erschienen in: Heilberufe 6/2020

01.06.2020 | Pflege Kolleg Zur Zeit gratis

Formen der Gewalt

verfasst von: Alexandra Schünemann

Erschienen in: Heilberufe | Ausgabe 6/2020

Aktiv und direkt Gewalt gestaltet sich facettenreich und ist unabhängig vom Anwendungsgebiet. Pflegende und Patienten/Bewohner machen häufig direkte Gewalterfahrungen auf der psychischen und physischen Ebene. Dazu zählt auch die aktive und passive Vernachlässigung. Besonders die Form der aktiven Vernachlässigung ist in der Pflege häufig zu beobachten.
Die aktive oder auch direkte Gewaltform beschreibt das vorsätzliche destruktive Handeln oder auch das bewusste Unterlassen von Hilfeleistungen durch eine Person oder Gruppe. Diese Grundform der Gewalt ist durch die traditionelle Vorstellung der Gesellschaft gekennzeichnet und immer als ein direktes Gewaltereignis objektiv wahrnehmbar.
Die direkte Gewaltform gliedert sich in fünf verschiedenen Ebenen: physische und psychische Gewalt, aktive Vernachlässigung, finanzielle und sexuelle Gewalt. Auf allen fünf Ebenen ist der Patient/Bewohner - egal, in welcher pflegerischen Einrichtung er betreut wird - das bewusst ausgewählte Opfer von Gewalt der jeweiligen Pflegekraft. Die Ebenen der physischen und der psychischen Gewalt sowie der aktiven Vernachlässigung sind die drei Formen, die am häufigsten angewandt werden. Die finanzielle und sexuelle Gewalt finden ihre Anwendung eher in der Alten- und Sozialpflege.

Physische Gewalt

Die Ebene der physischen Gewalt ist gekennzeichnet durch die aktive Ausübung von gewalttätigen Handlungen mit dem Bewusstsein, körperlichen Schaden zu erzielen. Die physische Gewalt umfasst alle Formen von Misshandlungen und ist darauf ausgerichtet, durch die körperlichen Schäden Schmerzen zu verursachen. Sie umfasst Handlungen wie Schlagen, Treten, Fesseln, Festhalten oder ähnliche Handgreiflichkeiten.
Die Folgen sind durch äußerliche Schäden wie Prellungen, Hämatome, Quetschungen oder Brüche sichtbar. Zur physischen Gewalt in der Pflege zählen aber auch unsachgemäße Fixierungen, inkorrekte Verabreichung der Dosierung von Medikamenten (besonders Sedativa) oder Zwangsmaßnahmen wie enterale/parenterale Ernährung und Setzen eines Dauerkatheters.
Beispiel aus der Intensivpflege: Frau Glas befindet sich nach einer viszeralchirurgischen Operation auf einer Intensivstation. Mittlerweile ist sie nicht mehr beatmet, benötigt ein bisschen Sauerstoff zur Unterstützung der Atmung und ist hämodynamisch ohne Katecholamine stabil. Allerdings ist sie neurologisch nicht immer orientiert und dementsprechend etwas verwirrt. In der Nacht wird sie von Pfleger Stefan betreut, der heute seine sechste Nachtschicht in Folge hat. Stefan ist sehr müde und erschöpft, besonders weil Frau Glas ihn auf Trab hält. Gegen 3 Uhr in der Nacht hat Stefan keine Geduld mehr, da sich Frau Glas bereits zum achten Mal vom Monitor abgemacht hat, versucht hat aufzustehen und fast gestürzt wäre. Er beschließt, den Propofol®-Perfusor, der Frau Glas in der letzten Nacht schön hatte schlafen lassen, wieder anzustellen. Dies geschieht ohne Rücksprache mit dem Arzt, denn auch der ist müde und hat sich im Arztzimmer zum Schlafen hingelegt. Nachdem der Perfusor angestellt ist und Frau Glas einen kleinen Bolus erhalten hat, schläft sie und liegt ruhig im Bett. Etwas später in der Nacht schaut Pfleger Stefan bei Frau Glas nach dem Rechten und ist direkt alarmiert, denn Frau Glas ist ganz blau im Gesicht und hat die suffiziente Atmung eingestellt. Der Sättigungsalarm war aus, er hatte vergessen, ihn wieder anzustellen, und die aktuelle Sauerstoffsättigung war bereits bei 71%. In diesem Moment rief er um Hilfe und Frau Glas wurde reanimationspflichtig.

Psychische Gewalt

Die Ebene der psychischen Gewalt beschreibt die aktive Ausübung von verbalen Äußerungen oder den absichtlichen Angriff auf der emotionalen Ebene mit dem Bewusstsein, psychische Schäden anzurichten.
Pychische Gewalt wird in der Regel auf der seelischen und emotionalen Ebene ausgeübt und hinterlässt auf den ersten Blick keine klaren, sichtbaren Symptome. Sie lässt sich schwieriger erkennen, obwohl die Folgen für den Betroffenen genauso spürbar sein können wie bei physisch ausgeübter Gewalt. Die Formen der psychischen Gewalt sind äußerst vielseitig. Dazu gehören beispielsweise verbale Äußerungen, Beschimpfungen, Beleidigungen oder ein respektloser Umgang. In der Pflege äußert sich die psychische Gewalt auch in Drohungen, in Erpressung, Reden in Babysprache, Verniedlichungen oder Manipulationen.
Beispiel aus der ambulanten Pflege: Pflegerin Ilona fährt schon seit über 20 Jahren zu Frau Paulis. Angefangen hat es mit Thrombosespritzen und dem Richten von Tabletten, mittlerweile benötigt sie aber auch Unterstützung bei der Körperpflege. Ilona hat heute sehr schlechte Laune, da sie verschlafen hat und daher im Zeitstress ist. Frau Paulis braucht aber viel Zeit, bis sie gewisse Tätigkeiten ausgeübt hat, diese hat Ilona heute aber nicht. Das lässt sie Frau Paulis bei der Körperpflege am Waschbecken auch spüren. "Heute muss alles etwas schneller gehen, ich habe nicht so viel Zeit wie sonst. Also nehmen Sie jetzt endlich diesen blöden Waschlappen in die Hand und waschen Sie sich ihr Gesicht. Das kann doch nicht so schwer sein." Frau Paulis ist völlig eingeschüchtert und versucht, den Aufforderungen ihrer Pflegerin nachzukommen. Nur funktioniert das leider nicht so gut, denn je mehr sie gestresst ist, desto schlimmer wird der Tremor in den Händen. Ilona will sich das nicht weiter mit anschauen und nimmt ihr den Waschlappen aus der Hand, sodass sie die Körperpflege übernehmen kann, um Zeit zu sparen. Während sie Frau Paulis pflegerisch versorgt, beschimpft sie sie und droht ihr, dass sie nächstes Mal nicht mehr komme, wenn sie so lang brauche.

Aktive Vernachlässigung

Die Ebene der aktiven Vernachlässigung ist gekennzeichnet durch die aktive Unterlassung von notwendigen pflegerischen oder medizinischen Maßnahmen. Die aktive Vernachlässigung ist eine besondere Ebene der aktiven beziehungsweise direkten Gewalt, denn sie tritt in Pflegeeinrichtungen aller Formen wahrscheinlich täglich auf, und zwar, ohne dass die Pflegenden böse Absichten hegen. Ausschlaggebend für diese Form der Gewalt ist das aktive Wahrnehmen der Notwendigkeit einer pflegerischen Handlung, gefolgt von einer bewussten Durchführungsverweigerung.
Mit anderen Worten: Maßnahmen, die vom Pflegenden erkannt werden und durchgeführt werden sollten, werden mit Absicht unterlassen. Diese Durchführungsverweigerung gestaltet sich in unterschiedlichen Graden, je nach Wichtigkeit der unterlassenen Maßnahme oder Handlung. Diese Grade gehen vom bewussten Ignorieren der Klingel auf Station bis hin zu ungenügender Mobilisation oder fehlenden Positionswechseln mit der Folge von Dekubitus-Entwicklung.
Beispiel aus der stationären Pflege: Auf einer unfallchirurgischen Allgemeinstation liegt Herr Roller. Er hatte einen Autounfall und musste am Bein operiert werden. Nach der Operation am gestrigen Tag fühlte er sich zwar schlapp und müde, hatte aber keine starken Schmerzen. Heute musste er jedoch im Tagesverlauf schon mehrmals nach einem Schmerzmittel verlangen, da es immer schlimmer wurde. Im Spätdienst wurde es so stark mit den Schmerzen, dass er nochmals die Klingel betätigte. Ein Auszubildender kam in das Zimmer und versicherte Herrn Roller, er würde der betreuenden Pflegekraft direkt Bescheid geben und auch den Ärzten, damit es ihm bald wieder besser gehe. Der Auszubildende Frank gab Pflegerin Johanna Bescheid und meinte, dass es bestimmt auch gut wäre, wenn man den Dienstarzt anrufen würde, da die Intensität der Schmerzen nicht üblich sei. Pflegerin Johanna war jedoch der Meinung, dass dies nicht nötig sei und sich Herr Roller nicht so anstellen solle, er habe schon genügend Schmerzmittel erhalten. Später bekam Herr Roller Besuch von seiner Familie. Diese war sehr besorgt und ging direkt in den Pflegestützpunkt, um nach einem Schmerzmittel zu fragen. Pflegerin Johanna war schon sehr genervt vom Verhalten des Herrn Roller und versicherte der Familie, dass Schmerzen nach einer Operation normal seien und er auch in zwei Stunden erneut ein Schmerzmittel erhalten werde. So kam es, dass Herr Roller nicht mehr klingelte und sich mit seinen Schmerzen abfand. Allerdings entwickelte sich ein Kompartmentsyndrom, das nicht rechtzeitig erkannt wurde. Herr Roller musste notfallmäßig operiert werden.

Finanzielle Gewalt

Die Ebene der finanziellen Gewalt umfasst alle Maßnahmen, die eine finanzielle Ausbeutung in Betracht ziehen. Zur finanziellen Gewalt zählt nicht nur der Diebstahl von Besitztümern des Pflegebedürftigen, dazu zählen auch die Veruntreuung von Geldern, das Ändern von Testamenten und diverse andere Geldleistungen. In der Pflege steht die Form der finanziellen Gewalt häufig in Verbindung mit anderen Gewaltebenen, besonders mit der physischen und psychischen Gewalt in Form von Erpressung oder Drohungen.
Beispiel aus der häuslichen Pflege durch pflegende Angehörige: Herr Tipi wohnt mit seinem Vater in dessen Haus und versorgt ihn schon seit mehreren Jahren allein. Aufgrund der Folgen eines Schlaganfalls ist der Vater bettlägerig und muss über die PEG künstlich ernährt werden. Herr Tipi ist beruflich selbstständig und arbeitet von zu Hause aus, um sich auch tagsüber um seinen Vater kümmern zu können. Dazu kommt, dass er keine fremden Menschen in sein Haus lassen möchte. Er lebt sehr zurückgezogen und leidet an Depressionen. Nun wächst ihm alles über den Kopf, denn die Pflege für seinen Vater wurde nach dem letzten Krankenhausaufenthalt immer umfangreicher. Diese kann er leider nicht mehr allein leisten und ist auf professionelle Unterstützung bzw. Pflege angewiesen. Allerdings hat er finanzielle Probleme und das Pflegegeld für seinen Vater fest verplant, sodass er sich auch keine professionelle Pflege leisten kann. Also beschließt er, weiterhin seinen Vater allein zu versorgen und das Pflegegeld zu behalten. Zudem hat Herr Tipi die finanzielle Vollmacht über das Konto seines Vaters. Er beschließt, dort Geld von dessen Konto abzuheben, da sein Vater eh nichts bemerken wird.

Sexuelle Gewalt

Die Ebene der sexuellen Gewalt umfasst alle sexuellen Handlungen auf der physischen sowie psychischen Gewaltebene. Innerhalb der Pflege zeigt sich sexuelle Gewalt hauptsächlich in Form von verbalen sexuellen Demütigungen, Belästigungen oder Verletzungen gegenüber den Pflegebedürftigen. Sexuelle Übergriffe oder Vergewaltigung bzw. sexueller Missbrauch sind weitere Formen dieser Gewaltebene. Zudem kann sexuelle Gewalt auch auf der emotionalen Ebene Anwendung finden, beispielsweise durch anzügliche Äußerungen.
Beispiel aus der Altenpflege: Frau Blum kann sich aufgrund eines Tumorleidens mit Metastasenbildung nicht mehr selbstständig versorgen, und kam vor einigen Wochen in ein Pflegeheim. Die Metastasen haben sich im Gehirn manifestiert, sodass Frau Blum sehr verwirrt ist. So kam es, dass sie sich im Spätdienst komplett entkleidet und den Inhalt des Kleiderschranks im ganzen Zimmer verteilt hat. Pflegerin Julia wollte Frau Blum zum Bewohner-Abendessen abholen und ist schockiert, als sie Frau Blum in diesem Chaos vorfindet. Direkt ruft sie nach ihrer Kollegin, um ihr das Schauspiel zu zeigen. Aber anstatt Frau Blum zu helfen, sich wieder anzukleiden, und zum Abendessen zu begleiten, machen beide Pflegerinnen abfällige Kommentare über Frau Blums Körper. Sie amüsieren sich über die Geschlechtsteile und fangen an, heftig zu lachen, ohne zu bemerken, dass Frau Blum diese Situation ausnahmsweise versteht.

Buchtipp

Alexandra Schünemann

Nur gut gemeint? Gewalt in der Intensivpflege.

Springer Verlag 2020, ISBN 978-3-662-60574-5: 12.99 €

Pflege einfach machen

Direkte Gewaltform gliedert sich in fünf verschiedene Ebenen: physische, psychische Gewalt, aktive Vernachlässigung, finanzielle und sexuelle Gewalt.
Sie ist gekennzeichnet durch die aktive Ausübung von Handlungen mit dem Bewusstsein, Schaden zu erzielen.
Aktive Vernachlässigung ist gekennzeichnet durch die Unterlassung von notwendigen pflegerischen oder medizinischen Maßnahmen.

Nutzen Sie Ihre Chance: Dieser Inhalt ist zurzeit gratis verfügbar.

Unsere Produktempfehlungen

Heilberufe im Abo

Print-Titel

Print-Ausgabe, Zugriff auf digitale Inhalte und Teilnahme am PflegeKolleg.

Für Verbandsmitglieder

Mitglieder im ABVP, DRK und DGF erhalten Heilberufe übrigens zum Vorzugspreis. Schicken Sie einfach eine E-Mail mit den entsprechenden Angaben zu Ihrer Mitgliedschaft an: leservice@springer.com, Betreff: "Bestellung Heilberufe Abo".

Springer Pflege Klinik – unser Angebot für die Pflegefachpersonen Ihrer Klinik

Mit dem Angebot Springer Pflege Klinik erhält Ihre Einrichtung Zugang zu allen Zeitschrifteninhalten und Zugriff auf über 50 zertifizierte Fortbildungsmodule.

Metadaten
Titel
Formen der Gewalt
verfasst von
Alexandra Schünemann
Publikationsdatum
01.06.2020
Verlag
Springer Medizin
Erschienen in
Heilberufe / Ausgabe 6/2020
Print ISSN: 0017-9604
Elektronische ISSN: 1867-1535
DOI
https://doi.org/10.1007/s00058-020-1511-0

Weitere Artikel der Ausgabe 6/2020

Heilberufe 6/2020 Zur Ausgabe

Pflege Praxis

Dekubitus vorbeugen