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Erschienen in: Notfall +  Rettungsmedizin 5/2016

Open Access 01.08.2016 | Konzepte – Stellungnahmen – Leitlinien

Etablierung einer Checkliste entsprechend des ABCDE-Schemas für das ersteintreffende Fahrzeug bei einem Großschadensfall

verfasst von: S. Ziegenhorn, V. M. Gielen, B. D. Domres, A. Exadaktylos, P. Rupp

Erschienen in: Notfall + Rettungsmedizin | Ausgabe 5/2016

Zusammenfassung

In der Abarbeitung diverser präklinischer und klinischer Notfallszenarien hat sich weltweit das ABCDE-Schema bewährt, welches eine einfach zu erinnernde Reihenfolge der Priorisierung von Untersuchung und Therapie bietet. Die Autoren haben, basierend auf den durchgeführten Einsätzen, in der gemeinsamen Diskussion ein aus einfachen englischsprachigen Begriffen bestehendes ABCDE-Schema für das ersteintreffende Fahrzeug beim Großschadensfall entwickelt. Dieses ist einerseits einfach zu erinnern, andererseits so umfassend, dass die Anfangszeit vor Ort damit vollständig zu bearbeiten ist.

Einleitung

Verschiedene schwierige Einsatz- und Versorgungssituationen werden in der Notfallmedizin seit mehreren Jahrzehnten durch strukturierte Arbeitsabläufe abgearbeitet. Diesen Algorithmen ist gemein, dass komplexe – oder zumindest komplex erscheinende – Situationen in den allermeisten Fällen zu einem ABCDE-Schema kondensiert werden [1]. Als Beispiele seien hier Advanced Cardiac Life Support (ACLS), Pediatric Advanced Life Support (PALS), Prehospital Trauma Life Support (PHTLS) und Advanced Trauma Life Support (ATLS) genannt. Ein anerkannter Vorteil dieser Versorgungskonzepte ist, dass Fachpersonal aus verschiedenen Einsatzregionen, ja sogar Ländern, gemeinsam und zielorientiert arbeiten kann.
Eine der komplexesten Einsatzsituationen ist sicherlich die des bei einem Großschadensereignis ersten eintreffenden Fahrzeugs am Notfallort. Im englischsprachigen Gebiet hat sich das Akronym „METHANE“ für die Informationsübermittlung zwischen dem Schadensraum und der Leitstelle als Standard etabliert („major incident declared“ – „exact location“ – „type of incident“ – „hazards present or suspected“ – „access-routes that are safe to use“ – „number, type, severity of casualties“ – „emergency services present and those required“) [2]. Die Autoren haben die eigene Einsatzerfahrung genutzt, um ein ABCDE-Schema für das ersteintreffende Fahrzeug bei einem Großschadensfall zu erstellen, welches sich im Gegensatz zu METHANE an dem Ablauf des Einsatzes orientiert (Abb. 1).

Konzept

A – Attention, Area, Approach

Diese drei Worte am Anfang des Alphabets beschreiben die Tätigkeiten, die auf der Anfahrt beziehungsweise in den ersten Momenten der Ankunft von Wichtigkeit sind.
Attention bezieht sich auf mögliche Gefahren, welche bei den Feuerwehren in dem Gefahrenschema AAAACEEEE [3] mit den Punkten Atemgifte, Angstreaktion/Panik, Ausbreitung, Atomare Gefahren/ionisierende Strahlung, Chemische Gefahren, Erkrankung/Verletzung, Explosion, Elektrizität und Einsturz beschrieben sind. Diese Punkte sollten von dem Team in dem anfahrenden Fahrzeug im Idealfall bereits auf dem Weg zum Einsatzort besprochen werden und sind letztlich die Grundlage weiterer Entscheidungen.
Area beschreibt das Wissen der beteiligten Einsatzkräfte über den Einsatzort. Dieses setzt sich zusammen aus den im Einsatzleitrechner hinterlegten Wissen sowie den speziellen Ortskenntnissen der Einsatzkräfte angewandt auf die konkrete Schadenslage.
Approach bedeutet, welche Annäherung, welche Herangehensweise und Anfahrtsroute, basierend auf den Vorinformationen und der ersten Gefahrenbeurteilung, gewählt werden sollten [4]. Hier ist also Zeit für eine Analyse sowie ein erstes gedankliches Zusammenfassen des Wissens und auch Planen der Anfahrt. Diese Anfahrtsroute ist niemals die alleinige Entscheidung des Fahrzeugführers oder des Teams, die Wahl sollte immer in direkter Absprache mit der Leitstelle erfolgen.

B – Break, Barrier, Barrier

Das Wort Break steht für Pause und Überblick verschaffen. Analog zu dem „10 für 10“ – 10 Sekunden für 10 Minuten – aus dem Crew Resource Management (CRM) [5], sollte man sich an der Einsatzstelle diese kurze Pause nehmen und sich nicht von den ersten Eindrücken (und hier vermutlich denen, welche die Sinne am meisten reizen) führen lassen.
An der Einsatzstelle eingetroffen, sollten sich die Helfer selber schützen (Eigensicherung – erste Barrier). Selbstverständlich ist hierbei auf die unter A genannten Gefahren im speziellen zu achten. Des Weiteren gilt es, die Verunglückten sowie andere Personen im Umfeld vor Gefahren zu schützen. Dafür ist ein Absperren (zweite Barrier) unumgänglich. Ebenfalls kann dieser Punkt eine Tatortsicherung bedeuten, wobei hervorzuheben ist, dass die medizinische Versorgung immer Vorrang hat. Das Absperren wird später von nachrückenden Feuerwehr- oder Polizeikräften übernommen und durchgeführt.

C – Count, Communicate

Ein wichtiger Punkt in den ersten Minuten ist die Zählung der Betroffenen und eine Vorsichtung [6], die eine Abschätzung der zusätzlich benötigten Kräfte ermöglicht. Diese Abschätzung erfolgt durch ein Zählen – Count der Betroffenen in den entsprechenden Triage-Kategorien.
Communicate steht für die erste qualifizierte Rückmeldung zur Leitstelle. Hierbei sollten alle bislang gesammelten Informationen präzise an den zuständigen Kollegen weitergegeben werden, damit dieser trotz seiner räumlichen Abwesenheit vom Schadensort seine Arbeit unterstützend durchführen kann [7]. Beinhalten sollte diese Rückmeldung alle bislang erhaltenen Informationen zu den Buchstaben A, B und C. Sicherlich ist der Buchstabe C nicht nur mit einer einmaligen Erledigung abgearbeitet, sondern stellt einen Grundpfeiler der effektiven Einsatzarbeit dar.

D – Develop, Direct, Delegate

Develop: Die Besatzung des ersteintreffenden Fahrzeugs ist für die weitere Einsatzentwicklung verantwortlich, indem sie die notwendigen Strukturen vor Ort etabliert. Hierfür steht der Begriff Develop. In Rücksprache mit der Leitstelle werden Sammelpunkte für nachrückende Kräfte eingerichtet. Für die im Großschadensereignis notwendigen Strukturen Patientenablage, Dekontaminationsplatz, Behandlungsplatz, Krankenwagenhalteplatz, Betreuungsstelle usw. sind die geeigneten Orte festzulegen.
Direct und Delegate sind voneinander abhängig. Sobald weitere Einsatzkräfte vor Ort sind, werden diese mit eingebunden, geführt, und Aufgaben werden delegiert. Nun gilt es, die zunehmende Zahl an Einsatzkräften sinnvoll zu koordinieren, Chaos zu vermeiden und alle anstehenden Aufgaben nach deren Dringlichkeit abzuarbeiten. Dabei beschreiben Direct und Delegate auch die im Rahmen dieses Artikels nicht erwähnten weiteren raumordnenden sowie patientenversorgenden Maßnahmen, die schließlich zum gemeinsamen Erfolg des Einsatzes beitragen.

E – Evaluate, Emergency departements

Solange das reguläre Führungspersonal noch nicht vor Ort eingetroffen ist, bleibt die weitere Führungsverantwortung bei dem ersteintreffenden Fahrzeug. In den strukturierten Versorgungskonzepten wird regelmäßig bei Schwierigkeiten in der Versorgung des Patienten ein Zurückgehen auf A und dann nochmaliges Abarbeiten der Versorgungsschritte gefordert. Bei unserem Konzept handelt es sich nicht um einen Algorithmus, sondern vielmehr um eine Checkliste. Bei einer bereits in Entwicklung befindlichen Einsatzsituation ist es äußerst schwierig bis unmöglich, zum Beispiel den Approach zu ändern. Somit bedienen wir uns an dieser Stelle des Begriffs Evaluate, wobei das bisherige Handeln überdacht und mit der Situation und der erhofften Entwicklung zusammengeführt werden soll.
Nach dem Eintreffen des regulären Führungspersonals (Leitender Notarzt und Organisatorischer Leiter Rettungsdienst, in der Schweiz Einsatzleiter Rettungsdienst) wird die Führung und damit die Verantwortung für den Einsatz an diese strukturiert mit allen zu diesem Zeitpunkt verfügbaren Informationen übergeben [8]. Der Übergang der Verantwortung muss klar ausgesprochen und kommuniziert, der Zeitpunkt dokumentiert werden.
Alle Großschadenslagen haben zumindest in der Anfangszeit ein Ungleichgewicht von vielen Betroffenen auf der einen Seite gegenüber wenigen Helfern auf der anderen Seite gemein [9]. Somit darf unter keinen Umständen das ersteintreffende Fahrzeug nach dem Motto „Erstes Fahrzeug, erstbester Patient, erstbeste Klinik“ handeln. Das Wohl vieler Patienten muss vor dem Wohl einzelner stehen. Dadurch muss im Einzelfall in Kauf genommen werden, dass Patienten, die unter individualmedizinischen Gesichtspunkten gerettet werden können, gesundheitlichen Schaden erleiden. Im Verlauf können bestehende Strukturen genutzt werden. Emergency departements steht zum einen für die frühzeitige Information der Notaufnahmen [10] (durch die Leitstelle), zum anderen für das koordinierte und das evtl. zeitverzögerte Transportieren der Betroffenen dorthin.

F – Feedback

Obgleich bislang nicht in dem ABCDE-Schema etabliert: Am Ende des Einsatzes sind wir alle angehalten, unser Handeln zu hinterfragen und von anderen reflektieren zu lassen. Nutzen wir diese Chance, denn nur so werden wir besser!

Diskussion

Dies ist ein Vorschlag eines strukturierten ABCDE-Schemas für das ersteintreffende Fahrzeug bei Großschadenslagen. Aufgrund der geringen Zahl an Großschadensereignissen wird der einzelne Rettungsdienstmitarbeiter nur selten in die Situation kommen, als erster vor Ort zu sein. Lediglich Planspiele und Übungen bereiten auf diese Situation vor, nur wenige haben Einsatzroutine sammeln können [11]. Mit diesem Schema möchten die Autoren eine „Sicherheitsleine“ schaffen, anhand derer die wichtigsten Punkte in einer sinnvollen Reihenfolge abgearbeitet werden können.
In den Versorgungskonzepten ACLS, PALS, PHTLS und ATLS werden, wie erwähnt, die gleichen Buchstaben ABCDE zur strukturierten individualmedizinischen Versorgung verwendet. Die Analogie der Buchstabenfolge zu den erwähnten Konzepten ist auf der einen Seite die Attraktivität unseres Vorschlags zur Abarbeitung von Großschadensereignissen. Auf der anderen Seite ist aber auch kritisch zu diskutieren, dass hier eine Neubesetzung der Buchstabenfolge stattfindet: ABCDE sind in den bereits etablierten Konzepten stets mit den gleichen Bedeutungen belegt (Airway, Breathing, Circulation, Disablity, Exposure). In notfallmedizinischen Situationen hat sich in der Zwischenzeit ein gemeinsames Verständnis für beispielsweise ein A‑, B‑ oder ein C‑Problem und entsprechende Handlungsimplikationen entwickelt. Somit könnte es zu Verwechselungen oder Vermischungen der Begriffe und schlimmstenfalls zu Fehlhandlungen kommen.
Weltweit werden täglich unzählige Patienten nach ACLS, PALS, PHTLS und ATLS versorgt, wohingegen Großschadenslagen einen nur geringen Anteil einnehmen. Nach unserem Dafürhalten handelt es sich bei dem von uns zur Diskussion gestellten Konzept für Großschadenslagen um die Schließung einer existierenden Lücke, um durch ein sinnvolles Herangehen von Seiten des Hilfspersonals dieses im Einsatz zu schützen, eine Vergrößerung des Schadens zu vermeiden und möglichst vielen Personen eine optimale Versorgung zu ermöglichen.
Da es sich um ein Konzept bzw. eine Checkliste einzig und allein für das ersteintreffende Fahrzeug beim Großschadensfall handelt – und somit naturgemäß nachrückende Kräfte nicht weiter nach diesem Schema arbeiten werden – werten die Autoren den vermuteten Benefit für die Bewältigung der Ausnahmesituation deutlich höher als die Gefahr der Vermischung oder Verwechselung mit den bisherigen Bedeutungen der Buchstaben ABCDE in der individuellen Notfallmedizin.
Selbstverständlich muss sich das Schema in Planspielen, Übungen und in der Praxis beweisen und weiter entwickeln.

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt

S. Ziegenhorn, V.M. Gielen, B.D. Domres, A. Exadaktylos und P. Rupp geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Dieser Beitrag beinhaltet keine von den Autoren durchgeführten Studien an Menschen oder Tieren.
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Literatur
1.
Zurück zum Zitat Ziegenfuß T (2014) Notfallmedizin, 6.Aufl. Springer, Heidelberg, S 44 Ziegenfuß T (2014) Notfallmedizin, 6.Aufl. Springer, Heidelberg, S 44
3.
Zurück zum Zitat Kemper H (2011) Gefahren der Einsatzstelle, 4. Aufl. ecomed, Landsberg, S 12 Kemper H (2011) Gefahren der Einsatzstelle, 4. Aufl. ecomed, Landsberg, S 12
4.
Zurück zum Zitat Cimolino U, Heck J, Südmersen J (2015) Standard-Einsatz-Regeln: Hilfeleistungseinsatz bei Verkehrsunfällen, 3. Aufl. ecomed, Landsberg, S 41 Cimolino U, Heck J, Südmersen J (2015) Standard-Einsatz-Regeln: Hilfeleistungseinsatz bei Verkehrsunfällen, 3. Aufl. ecomed, Landsberg, S 41
5.
Zurück zum Zitat Moecke M, Marung H, Oppermann S (Hrsg) (2013) Praxishandbuch Qualitäts- und Risikomanagement im Rettungsdienst. MWV, Berlin, S 156 Moecke M, Marung H, Oppermann S (Hrsg) (2013) Praxishandbuch Qualitäts- und Risikomanagement im Rettungsdienst. MWV, Berlin, S 156
6.
Zurück zum Zitat Adams HA, Flemming A, Lange C, Hildebrand F, Krettek C, Koppert W (2012) Anästhesiologie Intensivmed 53:4–18 Adams HA, Flemming A, Lange C, Hildebrand F, Krettek C, Koppert W (2012) Anästhesiologie Intensivmed 53:4–18
7.
Zurück zum Zitat Adams HA, Flemming A, Gänsslen A (2008) Notf Rettungsmed 6:386–392CrossRef Adams HA, Flemming A, Gänsslen A (2008) Notf Rettungsmed 6:386–392CrossRef
8.
Zurück zum Zitat Ellinger K, Grenzwürker H (Hrsg) (2011) Kursbuch Notfallmedizin, 2. Aufl. Deutscher Ärzteverlag, Köln, S 887 Ellinger K, Grenzwürker H (Hrsg) (2011) Kursbuch Notfallmedizin, 2. Aufl. Deutscher Ärzteverlag, Köln, S 887
9.
10.
Zurück zum Zitat Ellinger K, Grenzwürker H (Hrsg) (2011) Kursbuch Notfallmedizin, 2. Aufl. Deutscher Ärzteverlag, Köln, S 885 Ellinger K, Grenzwürker H (Hrsg) (2011) Kursbuch Notfallmedizin, 2. Aufl. Deutscher Ärzteverlag, Köln, S 885
11.
Zurück zum Zitat Wölfl CG, Matthes G (2010) Unfallrettung: Einsatztaktik, Technik und Rettungsmittel. Schattauer, Stuttgart, S 62 Wölfl CG, Matthes G (2010) Unfallrettung: Einsatztaktik, Technik und Rettungsmittel. Schattauer, Stuttgart, S 62
Metadaten
Titel
Etablierung einer Checkliste entsprechend des ABCDE-Schemas für das ersteintreffende Fahrzeug bei einem Großschadensfall
verfasst von
S. Ziegenhorn
V. M. Gielen
B. D. Domres
A. Exadaktylos
P. Rupp
Publikationsdatum
01.08.2016
Verlag
Springer Medizin
Erschienen in
Notfall + Rettungsmedizin / Ausgabe 5/2016
Print ISSN: 1434-6222
Elektronische ISSN: 1436-0578
DOI
https://doi.org/10.1007/s10049-016-0147-8

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