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Erschienen in: Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie 8/2019

18.10.2019 | Originalien

Ehefrau contra Patientenverfügung: eine kasuistisch inspirierte rechtliche und ethische Klärung

verfasst von: Prof. Dr. Bettina Schöne-Seifert, Prof. Dr. Thomas Gutmann, Dr. Klaus Klother, Prof. Dr. Dr. Gerald Kolb

Erschienen in: Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie | Ausgabe 8/2019

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Zusammenfassung

Patientenverfügungen und Vorsorgevollmachten sind zwei von Patienten zunehmend genutzte Instrumente der vorausverfügenden Selbstbestimmung. Bei ihrem kombinierten Einsatz, wie er in Deutschland überwiegend empfohlen wird, kann es in der Anwendungsrealität zu unterschiedlichen Diskrepanzen zwischen Wortlaut oder Interpretation der Patientenverfügung und der Auslegung des geltenden Patientenwillens durch den Vorsorgebevollmächtigten kommen. In einer der hierbei möglichen Konstellationen möchte der Vorsorgebevollmächtigte eine einschlägige und eindeutige Patientenverfügung überstimmen, indem er auf seine privilegierte Kompetenz zur Beurteilung der „echten“ Behandlungswünsche oder des mutmaßlichen Patientenwillens verweist. Solche Fälle – strikt zu unterscheiden von Fällen mit echten oder vermeintlichen Interpretationsspielräumen in der Patientenverfügung – können eine normative Verunsicherung und erhebliche psychische Belastungen für alle Beteiligten bedeuten.
Anhand eines exemplarischen realen (nicht vor Gericht gekommenen) Klinikfalls aus dem Jahr 2015 werden rechtliche, ethische und pragmatische Aspekte der skizzierten Konstellation diskutiert. Ethisch wird vor einem, gegenwärtig offenbar auch von juridischer Exegese mitverschuldeten Rückfall in einen getarnten Behandlungspaternalismus gewarnt.
Fußnoten
1
Hierzu und zu den folgenden Passagen vgl. etwa [3, 4, 19].
 
2
Genauer geht es um das „3. Gesetz zur Änderung des Betreuungsrechts“, §§ 1901 und 1904 BGB betreffend.
 
3
Diese formelhafte Charakterisierung soll hier und im Folgenden auch Fälle ausschließen, in denen etwa die Identität, frühere Einwilligungsfähigkeit o. Ä. des Patienten fraglich ist.
 
4
So auch der BGH 2017 [7]: „Enthält die schriftliche Patientenverfügung eine Entscheidung über die Einwilligung oder Nichteinwilligung in bestimmte ärztliche Maßnahmen, die auf die konkret eingetretene Lebens- und Behandlungssituation zutrifft, ist eine Einwilligung des Betreuers [oder Bevollmächtigten], die dem betreuungsgerichtlichen Genehmigungserfordernis unterfällt, in die Maßnahme nicht erforderlich, da der Betroffene diese Entscheidung selbst in einer alle Beteiligten bindenden Weise getroffen hat. Dem Betreuer [oder Bevollmächtigten] obliegt es in diesem Fall nach § 1901a Abs. 1 S. 2 BGB nur noch, dem in der PV niedergelegten Willen des Betroffenen Ausdruck und Geltung zu verschaffen“.
 
5
Etwa, weil er eine zusätzliche Vorsorgevollmacht für unnötig hält, sie seinen Angehörigen nicht zumuten möchte oder keinen dafür geeigneten Nahestehenden hat.
 
6
Vgl. dazu die entsprechende Gesetzesbegründung [10, S. 15].
 
7
Siehe [23, § 1901a Rn. 35] sowie [12, § 1901a Rn. 63].
 
8
§ 630d Abs. 1 S. 2 BGB.
 
9
[1, S. 882].
 
10
„In der Praxis wird gefragt, ob der Arzt … selbst bei Vorliegen einer einschlägigen Patientenverfügung stets die Bestellung eines Betreuers durch das Betreuungsgericht anregen muss. Der Gesetzgeber hält dies nicht für erforderlich. Davon geht auch § 630d Abs. 1 S. 2 BGB aus. Die Bundesärztekammer und die ZEKO sind – wie das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz – daher der Auffassung, dass eine eindeutige Patientenverfügung den Arzt direkt bindet“ [2, S. A2437] (ZEKO Zentrale Ethikkommission).
 
11
[8, Rn. 18].
 
12
Ebd. Rn. 35.
 
13
So etwa [13] oder [20], § 1901a, Rn. 141 f. (S. 351). Begründet wurde dies mit dem generalisierenden Wortlaut von § 1901a BGB („prüft der Betreuer“). Zudem komme der Fall einer möglichen direkten PV-Bindung in der Realität schon deswegen kaum vor, weil es eigentlich keine eindeutige PV geben könne: „Allerdings ist auch die Zuschreibung von ‚Eindeutigkeit‘ einer sprachlich fixierten Erklärung niemals ein rein objektives Datum, sondern stets Ergebnis einer Interpretation. Dass den behandelnden Ärzten auf diese Weise eine Interpretationshoheit über die Reichweite ihres eigenen Gebundenseins fern jedweder Kontrolle überantwortet wird, entsprach weder den Intentionen bei gesetzlicher Anerkennung der Patientenverfügung noch der bisherigen Deutung von § 1901a Abs. 1 Satz 2 …“ [14, S. 276].
 
14
Vgl. [3].
 
15
Eine andere viel diskutierte Problematik ist diejenige eines Patienten mit weit fortgeschrittener Demenz und dadurch verlorener Einwilligungsfähigkeit, der für diese Erkrankungsphase eindeutig den Verzicht auf lebenserhaltende Maßnahmen verfügt hat, zum Zeitpunkt der anstehenden Behandlungsentscheidung aber lebensfroh wirkt. Das geltende Recht schreibt nach herrschender Meinung auch hier allein dem noch einwilligungsfähigen Patienten das Recht zu, darüber zu entscheiden (und ggf. explizit zu widerrufen), wie er im Zustand einer künftigen Demenz behandelt werden möchte. Ethisch wird hingegen von Kritikern geltend gemacht, der wesensveränderte Demenzkranke stehe nicht mehr unter der Verfügungsgewalt seines früheren Ich, sondern müsse nach Maßgabe seines aktuellen Wohlergehens behandelt werden. Diese Kontroverse spielt für den vorliegenden Fall indes keine Rolle und kann hier daher nicht verfolgt werden (dazu [14, 15, 1719, 22]).
 
16
Duttge [13, S. 36]: „In diesem Licht zeigt sich nun überdeutlich, dass auch die neuen Empfehlungen von Bundesärztekammer und ZEKO noch immer vom paternalistischen Gedanken einer letztlich allumfassenden ärztlichen Verantwortung für das Patientenwohl getragen sind“.
 
17
Weitere Stakeholder aufseiten dieser Allianz könnten möglicherweise auch vermittelnde Rechtsanwälte und Mediatoren sein.
 
18
[5, Rn. 19].
 
Literatur
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Metadaten
Titel
Ehefrau contra Patientenverfügung: eine kasuistisch inspirierte rechtliche und ethische Klärung
verfasst von
Prof. Dr. Bettina Schöne-Seifert
Prof. Dr. Thomas Gutmann
Dr. Klaus Klother
Prof. Dr. Dr. Gerald Kolb
Publikationsdatum
18.10.2019
Verlag
Springer Medizin
Erschienen in
Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie / Ausgabe 8/2019
Print ISSN: 0948-6704
Elektronische ISSN: 1435-1269
DOI
https://doi.org/10.1007/s00391-019-01634-z

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