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Erschienen in: Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie 5/2013

01.07.2013 | Übersichten

Die neue alternde Gesellschaft

Demographische Transformation und ihre Auswirkungen auf Altersversorgung und Altenpflege in China

verfasst von: Dr. T. Liu, PD Dr. E.-J. Flöthmann

Erschienen in: Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie | Ausgabe 5/2013

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Zusammenfassung

In den vergangenen 50 Jahren vollzogen sich in China grundlegende Veränderungen in der Bevölkerungsentwicklung. Der demographische Übergang, der in den meisten europäischen Ländern mehrere Jahrzehnte dauerte, benötigte in China nur wenige Jahre. Ähnlich wie in Japan und Südkorea reduzierten sich die Geburten- und Sterberaten sehr schnell. China gehört zu den Ländern, in denen der Übergangsprozess am schnellsten verlief. Diese Entwicklung wird im vorliegenden Beitrag genauer betrachtet. Auch wenn die Geburten- und Sterberaten sich in Zukunft auf einem neuen niedrigen Niveau stabilisieren sollten, was heute sicherlich noch nicht abschließend beurteilt werden kann, werden die altersstrukturellen Auswirkungen noch Jahrzehnte nachwirken. Die demographische Alterung, die sich bereits in den vergangenen Jahren deutlich abzeichnete, wird in den nächsten Jahrzehnten noch stark zunehmen. Diese Entwicklung stellt das Land vor umfangreiche sozialpolitische Herausforderungen, u. a. weil die demographische Alterung in China mit einem Funktionsverlust der Familie einhergeht. Beide Entwicklungen haben weitreichende Auswirkungen auf die Altersvorsorge und die Altenpflege der Bevölkerung. Vor allem im Hinblick auf die Altersvorsorge reagieren Politik und Gesellschaft inzwischen mit umfassenden Reformen. Beispielsweise wurde in den städtischen Regionen ein modernes Rentenversicherungssystem eingeführt. Für die Bevölkerung in den ländlichen Gebieten fehlen derartige Reformen bislang noch. Aktuell werden im Rahmen eines Pilotprojekts Erfahrungen mit einem Alterssicherungssystem für die gesamte Bevölkerung gesammelt. Im Gegensatz zur Altersvorsorge wird das Thema Altenpflege in China noch wenig diskutiert, weil die Pflege älterer Menschen bislang ausschließlich Aufgabe der Familie war. Der sich wandelnde Stellenwert der Familie und die demographische Alterung werden in naher Zukunft eine intensivere Diskussion über die Pflege älterer Menschen in China erforderlich machen.
Fußnoten
1
Im demographischen Transformationsmodell wird der dynamische Entwicklungsprozess der Geburten- sowie Sterberate dargestellt. In der vorindustriellen Phase fallen sowohl die Geburten- als auch die Sterberate niedrig aus. Während der Phase der Industrialisierung, mit verbesserten Lebensbedingungen und einer guten medizinischen Versorgung, sinkt die Sterberate, während gleichzeitig die Geburtenrate steigt. Daher zeichnet sich in dieser Phase ein hohes Bevölkerungswachstum bis hin zu einer demographischen Explosion ab. In der postindustriellen Phase sinkt die Geburtenrate, während die Sterberate mit erhöhter Lebenserwartung ebenfalls weiterhin sinkt, die Bevölkerungsentwicklung stagniert. Wenn dieser Prozess sich fortsetzt, dann altert die Bevölkerung nicht nur, sondern schrumpft auch [2].
 
2
In der Vorreformphase zwischen den 1950er und 1960er Jahren belief sich die Fertilität in China auf 6,0 Kinder pro Frau, während die Sterberate kontinuierlich sank. Dank der verbesserten medizinischen Versorgung stieg die Lebenserwartung von 42 Jahren im Jahr 1949 auf 68 Jahre im Jahr 1980 [17]. Somit stieg die Zahl der Gesamtbevölkerung während der Mao-Zeit von 542 Mio. auf 987 Mio. an. Zu Beginn der 1980er Jahre beschloss die chinesische Regierung eine landesweite strikte Einkindpolitik, d. h. dass seitdem jeder Haushalt jeweils nur 1 Kind haben darf. In der Praxis besteht allerdings eine Diskrepanz zwischen der politischen Regelung und ihrer tatsächlichen Umsetzung: In ländlichen Gebieten sind Familien mit 2 oder 3 Kindern nach wie vor häufig anzutreffen.
 
3
Das bedeutet, dass ohne staatlich-politische Intervention in den Reproduktionsbereich der Familien noch weitere Kinderwünsche hätten verwirklicht werden können.
 
4
Das demographisch-ökonomische Paradoxon besagt, dass die Geburtenrate mit steigendem Pro-Kopf-Einkommen absinkt, weil die Opportunitätskosten höher ausfallen, wenn ein Elternteil die eigene Berufstätigkeit aufgibt, um zu Hause die Kinder zu erziehen.
 
5
Zum Bericht über die Bevölkerungsentwicklung gemäß des Mikrozensus 2005 von National Bureau of Statistics of China (2006) s. http://www.stats.gov.cn/tjgb/rkpcgb/qgrkpcgb/t20060316_402310923.htm (Zugegriffen: 05.07.2011).
 
6
Zum Bericht über die Bevölkerungsentwicklung gemäß der Volkszählung 2010 von National Bureau of Statistics of China (2011) s. http://www.stats.gov.cn/tjgb/rkpcgb/qgrkpcgb/t20110428_402722232.htm (Zugegriffen: 05.07.2011).
 
7
Im Englischen steht NEET als Abkürzung für „Not currently engaged in education, employment or training“. Dieser Begriff bezeichnet eine gesellschaftliche Erscheinung in der postindustriellen Gesellschaft, die davon geprägt ist, dass die betreffenden jungen Erwachsenen zwischen 15 und 34 Jahren keine Schule besuchen, keiner Berufstätigkeit nachgehen und an keiner beruflichen Ausbildung teilnehmen [14].
 
8
Bis zum Jahresende 2010 waren in den städtischen Gebieten Chinas insgesamt 257,07 Mio. unselbstständige Beschäftigte in der gesetzlichen Rentenversicherung versichert (Ministry of Human Resources and Social Security 2011, MHRSS). Zur Statistik der Entwicklung der sozialen Sicherheit in China im Jahr 2010, erstellt durch das MHRSS, s. http://w1.mohrss.gov.cn/gb/zwxx/2011–05/24/content_391125.htm (Zugegriffen: 11.07.2011).
 
9
Bis zum Jahresende 2010 waren in den ländlichen Gebieten Chinas insgesamt 102,77 Mio. Bauern in der ländlichen kollektiven Alterssicherung versichert (MHRSS 2011), nichtsdestotrotz macht die Versichertenzahl nur ca. 15,7% der gesamten ländlichen Bevölkerung aus. Zur Statistik der Entwicklung der sozialen Sicherheit auf dem Land im Jahr 2010 s. http://w1.mohrss.gov.cn/gb/zwxx/2011–05/24/content_391125.htm (Zugegriffen: 11.07.2011).
 
10
Dabei wird in China sowohl in der Wissenschaft als auch in der Politik häufig das Lernen von den Erfahrungen der westlichen Wohlfahrtsstaaten gefordert. Einige Wissenschaftler befürworten ausdrücklich die Notwendigkeit der Förderung von intermediären und nicht gewinnorientierten Wohlfahrtsinstitutionen. Als öffentlich-rechtliche Institutionen jenseits von Staat und Markt verfügen diese Wohlfahrtsinstitutionen über gewisse Vorteile: Sie streben nicht, wie viele private Organisationen, nach Profit um jeden Preis (und sei es auch zuungunsten der alten Pflegebedürftigen). Außerdem sind sie keine formellen staatlichen Organisationen und bilden daher auch kein Monopol, was andernfalls den gesunden Wettbewerb hemmen würde [20].
 
11
Die Pietät im Konfuzianismus beinhaltet die absolute Gehorsamkeit der Kinder ihren Eltern gegenüber. Die Versorgung und Pflege der Eltern ist das Mindeste, das von den Kindern erwartet werden kann. Nicht zuletzt deshalb schämen sich viele alte Menschen in der chinesischen Gesellschaft, wenn sie anderen gegenüber erwähnen müssen, dass sie entfernt von den eigenen Familien in einer öffentlichen Einrichtung gepflegt werden. Eine Versorgung außerhalb der Familie deutet indirekt darauf hin, dass die Alten von ihren eigenen Kindern im Stich gelassen wurden.
 
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Metadaten
Titel
Die neue alternde Gesellschaft
Demographische Transformation und ihre Auswirkungen auf Altersversorgung und Altenpflege in China
verfasst von
Dr. T. Liu
PD Dr. E.-J. Flöthmann
Publikationsdatum
01.07.2013
Verlag
Springer Berlin Heidelberg
Erschienen in
Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie / Ausgabe 5/2013
Print ISSN: 0948-6704
Elektronische ISSN: 1435-1269
DOI
https://doi.org/10.1007/s00391-012-0401-8

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