Angetrieben von diesen Bedenken und in einer Zeit, in der es durch informationstechnische Systeme im Gesundheitswesen zunehmend möglich wurde, große Datenmengen am Ort der Patientenversorgung zu erfassen, wurde 2007 im Institute for Medicine das Konzept des „Learning Health Care System“ (LHCS) vorgestellt (Institute of Medicine
2007). Der Bericht, der erste in einer Serie von mittlerweile 17 Berichten für die IOM Learning Health System Series, stellte einen neuen konzeptionellen Ansatz für die Integration von klinischer Forschung und klinischer Praxis vor, „bei dem die Wissensgenerierung so in den Kern der medizinischen Praxis eingebettet ist, dass sie ein natürlicher Auswuchs und ein Produkt des Prozesses der Gesundheitsversorgung ist und zu einer kontinuierlichen Verbesserung der Versorgung führt“ (Institute of Medicine
2007).
Eine „Lernaktivität“ wurde definiert als: „[…] eine, die sowohl (1) die Erbringung von Gesundheitsdienstleistungen oder die Nutzung individueller Gesundheitsinformationen beinhaltet als auch (2) als angestrebtes Ziel hat zu lernen, wie die klinische Praxis oder der Wert, die Qualität oder die Effizienz der Systeme, Institutionen und Modalitäten, durch die Gesundheitsdienstleistungen erbracht werden, verbessert werden kann…“ (Faden et al.
2013, S. 19; meine Übersetzung S.M.). Dies umfasst ein breites Spektrum von Aktivitäten (einschließlich pragmatischer klinischer Studien, vergleichender Wirksamkeitsforschung, Forschung und Praxis der Qualitätsverbesserung, Forschung und Praxis der Patientensicherheit, Qualitätssicherung usw.) (Faden et al.
2013).Ein wichtiger Aspekt des Lernens im Gesundheitswesen ist dabei die zunehmende Nutzung der großen Menge routinemäßig erhobener digitaler Gesundheitsdaten, die eine groß angelegte und mehrdimensionale Zusammenfassung und Analyse heterogener Datenquellen ermöglicht (Ienca et al.
2018). Die Zunahme dieser Daten hat auch bedeutende Möglichkeiten rund um die künstliche Intelligenz (KI) und Teilbereiche des maschinellen Lernens, der Verarbeitung natürlicher Sprache und der Robotik geschaffen. Es wird erwartet, dass diese Entwicklungen in der Datenwissenschaft das Gesundheitswesen verändern werden (Topol
2019). Mit der Fähigkeit, aus großen Sätzen klinischer Daten zu lernen, hat die Datenwissenschaft im Gesundheitswesen das Potenzial, ein breites Spektrum von Aktivitäten zu unterstützen, darunter Diagnostik (Liu et al.
2019), klinische Entscheidungsfindung (Shortliffe und Sepúlveda
2018), personalisierte Medizin (Schork
2019), klinische Forschung (Woo
2019), Arzneimittelentwicklung (Fleming
2018), Verwaltungsprozesse (Davenport und Kalakota
2019), und gesundheitliche Ungleichheiten (Chen et al.
2020). Leider ist die „unbequeme Wahrheit”, dass die Möglichkeiten in der Wissenschaft der Gesundheitsdaten oft genau das bleiben – Möglichkeiten (Panch et al. 2019). Organisationen des Gesundheitswesens verfügen oft nicht über die Dateninfrastruktur, die für die Erhebung der erforderlichen Daten benötigt wird, die Daten befinden sich oft in Silos entlang organisatorischer Grenzen, was die gemeinsame Nutzung dieser stark einschränkt, und unterschiedliche Datenschutz- und Einwilligungsanforderungen können die nationalen und internationalen Bemühungen um eine kooperative Gesundheitsforschung untergraben (Panch et al. 2019; McLennan et al.
2019). Diese Bedenken werden sich wahrscheinlich noch verstärken, wenn die verfügbaren Daten immer feinkörniger und vielfältiger werden (z. B. medizinische Bilder, physiologische Wellenformen usw.) (McLennan et al.
2019).
3.1 Beispiel: Intensivmedizin und die MIMIC-Datenbank
Intensivmedizin ist komplex, teuer und oft mit schlechten Ergebnissen verbunden (Gayat et al. 2018). Sie ist jedoch auch ein datenreiches Umfeld und stand bei den Bemühungen, die Datenwissenschaft zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung zu nutzen, an vorderster Front. Im Zuge dessen wurden in einer Reihe von Ländern, kommerzielle und nichtkommerzielle ICU-Datenbanken entwickelt (Celi et al. 2013). Eine der bekanntesten Intensivpflege-Datenbanken, die zu Forschungszwecken genutzt wird, ist die Datenbank Medical Information Mart for Intensive Care (MIMIC), die vom Laboratory for Computational Physiology (LCP) am Massachusetts Institute of Technology gepflegt wird (Johnson et al. 2016). MIMIC-III ist die dritte Iteration der Datenbank, die klinische Daten im Zusammenhang mit der Aufnahme von 53.423 verschiedenen erwachsenen Patienten auf Intensivstationen des Beth Israel Deaconess Medical Center in Boston, Massachusetts, enthält. Die Daten umfassen Vitalparameter, Medikamentengabe, Labormessungen, Beobachtungen und Notizen des Pflegepersonals, Flüssigkeitsbilanz, Verfahrenscodes, Diagnosecodes, Bildgebungsberichte, Krankenhausaufenthaltsdauer, Überlebensdaten und mehr (Johnson et al. 2016). Die Datenbank wird Forschern weltweit für die Sekundäranalyse frei zugänglich gemacht, sobald einer Datennutzungsvereinbarung zugestimmt worden ist. MIMIC hat sich als eine äußerst wertvolle Ressource erwiesen, die die akademische und industrielle Forschung, Initiativen zur Qualitätsverbesserung und Hochschulkurse unterstützt. Auf das Erfordernis der Zustimmung des einzelnen Patienten hat das örtliche IRB seit über 10 Jahren verzichtet, weil das Projekt keine Auswirkungen auf die klinische Versorgung hat und weil die Daten vor ihrer Aufnahme in die Datenbank durch Entfernung aller geschützten Gesundheitsinformationen gemäß dem Health Insurance Portability and Accountability Act (HIPAA) de-identifiziert werden (Johnson et al. 2016). MIMIC ist jedoch eingeschränkt durch die Tatsache, dass es sich um eine monozentrische Datenbank handelt. Aus diesem Grund gab es in den letzten Jahren Versuche, das Projekt sowohl national als auch international auszuweiten (McLennan et al.
2019). Die Verknüpfung von Datenbanken über Zentren und Länder hinweg hat eine Reihe potenzieller Vorteile, u. a. die Möglichkeit, Modelle institutionenübergreifend zu validieren. Damit ließe sich einerseits feststellen, welche Ergebnisse institutionsspezifisch und welche verallgemeinerbar sind, andererseits die Erkenntnisgewinnung allgemein beschleunigen (Celi et al. 2013). Nationale Bemühungen haben zur Entwicklung der multizentrischen MIT-Philips eICU Collaborative Research Database (
http://eicu-crd.mit.edu/) geführt. Diese enthält die Daten von Patienten, die auf Intensivstationen in mehr als 400 Krankenhäusern Vereinigten Staaten aufgenommen wurden. Obwohl auch mit internationalen Kooperationspartnern einige Fortschritte bei der Realisierung einer multizentrischen internationalen Datenbank für die Intensivpflege erzielt wurden, wurden die Bemühungen oftmals von lokalen Ethikkommissionen erschwert, die darüber beraten, ob die Zustimmung der Patienten zur Verwendung der Daten erforderlich ist (McLennan et al.
2019).