Dekubitalulcera sind wahrscheinlich so alt wie die Menschheit Bereits aus dem alten Ägypten wird von einer Prinzessin berichtet, die vermutlich an Blutkrebs erkrankt war und infolge der Immobilität ein großes Druckgeschwür am Kreuzbein erlitten hatte. Aber auch heute ist Dekubitus in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen immer noch ein Thema.
Auch im Jahre 2023 stellt sich die Frage: Warum gibt es immer noch Dekubitus? Denn bei allen technischen Errungenschaften, die wir heute haben, müsste es doch möglich sein, Druckgeschwüre komplett zu verhindern. In dem Artikel soll deshalb dieser Frage kritisch nachgegangen werden. Dabei werden Thesen diskutiert, die zum Teil auf Erfahrung oder aus zahlreichen Diskussionen stammen. Es soll auch gezeigt werden, wie sich die Thematik vermutlich in den nächsten Jahren entwickeln wird: sowohl von den Häufigkeiten von Druckgeschwüren, als auch von den zukünftigen technischen Möglichkeiten.
Das Wort sagt alles
Dekubitus lässt immer noch die Frage nach einem "Pflegefehler" aufkommen. Das Wort Dekubitus leitet sich aus dem Lateinischen vom Wort "de" = herab und "cubare" = Liegen ab. Dekubitus heißt "Darniederliegen" - gemeint ist die Immobilität des betroffenen Menschen. Dekubitus ist also nicht die Wunde, sondern die Ursache dieser Wunde. Die durch die Immobilität entstandene Wunde wird Dekubitalulcus oder im Plural Dekubitalulcera genannt. Menschen mit eingeschränkter Mobilität können ein Druckgeschwür entwickeln. Einem Dekubitus kann durch pflegerische Maßnahmen vorgebeugt werden: Mobilisieren oder Positionieren oder das Verwenden druckverteilender Hilfsmittel wie Matratzen oder Sitzkissen. Deshalb nennen Juristen das Auftreten von Dekubitus ein "voll beherrschbares Risiko".
Die Lokalisation von Dekubitus bei liegenden Personen sind vor allem das Kreuzbein (Os sacrum) und die Fersen. Das heißt Stellen, die in Rückenlage Druck erleiden. Bei Patienten auf Intensivstationen - zum Beispiel Covid-19 Patienten - werden aufgrund der zum Teil lange bestehenden Bauchlagerung auch Stellen im Gesicht (Ohren, Jochbein, Kinn) oder die Kniee betroffen sein. Demzufolge können wir Menschen identifizieren, die gefährdet sind, einen Dekubitus zu bekommen. Es ist auch grundsätzlich möglich, vorbeugende Maßnahmen zu ergreifen wie mobilisieren oder spezielle Hilfsmittel einzusetzen. Warum gibt es dann aber immer noch Dekubitus?
Die Diagnose ist oft falsch: Es muss nicht immer Dekubitus sein
Ein erstes großes Problem besteht auch heute noch darin, dass mehr als die Hälfe der dokumentierten Druckgeschwüre in Wirklichkeit keine sind. In eigenen Studien konnten wir feststellen, dass ca. 60% der "diagnostizierten" Dekubitalulcera in Wirklichkeit Feuchtigkeitswunden waren (Boschek et al 2003). Druckgeschwüre entstehen eher in der Tiefe über Knochenvorsprüngen. Die Wunden können sehr tief bis zum Knochen reichen. Dagegen sind die durch Feuchtigkeit wie Urin oder Stuhl erzeugten Hauterkrankungen oberflächlich, diffus ausbreitend und meist gut durchblutet.
Wie ist das zu verbessern? Hilfreich könnten kurze Schulungseinheiten sein, in denen zum Beispiel anhand von Fotos die Differenzierung gezeigt werden kann. Außerdem ist es sinnvoll, bei jeder Dekubitusmeldung durch Expert*innen nachschauen zu lassen, ob es wirklich ein Dekubitus ist.
Eine Feuchtigkeitswunde ist zwar kein Dekubitus, jedoch muss beachtet werden, dass zahlreiche Patienten zuerst eine Feuchtigkeitswunde im Bereich des Gesäßes bekommen und bei gleichzeitig bestehender Immobilität in diesem Bereich einen Dekubitus entwickeln. Deshalb müssen bei Patienten mit einer Inkontinenz Assoziierten Dermatitis (IAD) und Immobilität unbedingt präventive Maßnahmen gegen Dekubitus begonnen werden.
Erforschung des Dekubitus ist nach wie vor problematisch
Ein großes Problem in der Erforschung des Dekubitus bestand immer darin, dass man nicht sehen konnte, wie ein Dekubitus entsteht - denn das passiert vor allem in den tiefen Schichten des Gewebes. Dass lang einwirkender Druck die Ursache ist, war schon lange bekannt, doch wie sich der Druck genau im Gewebe schädlich verhält, konnte nicht festgestellt werden. Auch Kosiak (1962) konnte in seinen Tierexperimenten nur durch Aufschneiden des Gewebes feststellen, ob in der Tiefe des Gewebes ein Schaden im Gewebe gesetzt worden war oder nicht.
In den letzten 20 Jahren hat die MRT-Diagnostik (Kernspintomographie) Einzug in die Dekubitusforschung gehalten. Durch diese Technik kann während der Druckeinwirkung gesehen werden, was im Gewebe geschieht. Diese Untersuchungen wurden vor allem in der Luft- und Raumfahrtforschung durchgeführt. So fanden die Wissenschaftler heraus, dass nicht die Minderdurchblutung im Sinne einer Ischämie alleine die Ursache für den Dekubitus ist, sondern dass vor allem hoher Druck die Zellmembran schädigen kann, wodurch es zu einem Gewebsuntergang kommen kann.
Zusammengefasst kann man feststellen, dass bei der Vermeidung von Dekubitus einerseits langanhaltender Druck verhindert und andererseits hoher Druck reduziert werden muss.
Wenn die regelmäßige Positionierung des betroffenen Patienten einen Dekubitus verhindern soll, wäre eigentlich eine Lösung des Problems erkennbar. Doch es ist bis heute nicht bekannt, wie häufig der jeweilige Patient positioniert werden muss - denn die Entstehung von Dekubitus ist individuell verschieden.
Keine Zeit - zu wenig Personal
Korrektes Positionieren ist zeitaufwändig. Das heißt, es ist ausreichend Personal erforderlich. Personalmangel kann also auch die Ursache dafür sein, dass ein Dekubitus entsteht. Andererseits muss festgestellt werden, dass in Situationen, in denen eine Personalaufstockung stattfand, nicht automatisch weniger oder keine Druckgeschwür mehr aufgetreten sind.
Auswertungen bei Covid-19-Intensivpatienten zeigen, dass allein vorhandenes Personal nicht garantiert, dass die Positionierungen korrekt vorgenommen wurden: In der ersten Welle von Covid hatten zahlreiche Patienten auf Intensivstationen Dekubitalulcera entwickelt, die offenbar durch zu wenig oder keine Erfahrung des Personals begünstigt wurden. Es wurden mitunter Pflegekräfte eingesetzt, die keine Kompetenz im Positionieren Schwerstkranker auf den Bauch besaßen. Durch Schulungen traten diese Probleme später weniger auf. Es kommt also nicht nur darauf an, dass Personal vorhanden ist, sondern dass dieses auch qualifiziert ist.
Hilfsmittel falsch oder zu spät eingesetzt
Der Markt ist voll mit Hilfsmitteln gegen Dekubitus. Doch nicht alles ist sinnvoll. Wir wissen, dass wegen des konvexen Knochens an der Ferse nur ein Freilagern der Ferse sinnvoll ist. Doch es gibt immer noch zahlreiche Fersenlagerungshilfsmittel, in denen die Ferse aufliegt, also weiterhin Druck besteht. Für den Einsatz von Hilfsmitteln muss ebenfalls eine Kompetenz für die Auswahl des fachlich korrekten Hilfsmittels vorhanden sein. Aus eigener Erfahrung als Gutachter in zivilrechtlichen Fällen kann ich bestätigen, dass immer noch falsche Hilfsmittel eingesetzt werden.
Im ambulanten Bereich müssen die Hilfsmittel erst von der Krankenkasse genehmigt werden. Dies erfolgt mitunter erst dann, wenn bereits eine Dekubituswunde vorhanden ist. D.h. zur reinen Prophylaxe werden Hilfsmittel selten von der Kasse genehmigt.
In stationären Pflegeheimen sind die Unterschiede in der Ausstattung sehr groß. Es gibt Einrichtungen, die zahlreiche Hilfsmittel vorrätig haben, um Prophylaxe betreiben zu können. So sollte es auch gemäß Abgrenzungskatalog für Hilfsmittel sein. Doch es gibt auch Einrichtungen, die keine adäquaten Hilfsmittel besitzen.
Hilfsmittel können entweder den Druck auf eine größere Fläche verteilen oder sie lagern zeitweilig frei, wie etwa Wechseldruckmatratzen. Inzwischen sind auch Systeme vorhanden, die am Mikroklima der Haut regulativ eingreifen durch eine zusätzliche Belüftung. Wärme und Feuchtigkeit an der Haut können nämlich das Risiko für Dekubitus erhöhen, vor allem wenn die Haut durch Feuchtigkeit vorgeschädigt ist. Bis heute liegen zu wenig klinische Studien vor, die wirklich für die Auswahl der Hilfsmittel hilfreich sind. Das Hilfsmittel für alle Patienten wird es nicht geben.
Düstere Aussichten
Aktuell sind Patienten in einem schlechteren Allgemeinzustand als dies vor 40 Jahren der Fall war. Hinzu kommt, dass die Liegezeit in den Krankenhäusern rapide gesunken ist und somit mehr Schwerkranke versorgt werden müssen bei weniger Personal. Prognostiziert man darauf basierend die Häufigkeit von Dekubitus in 25 Jahren, kommt man zu einer düsteren Zukunft: Vermutlich nimmt das Risiko für Dekubitus nicht ab, sondern es wird bei noch mehr Patienten bestehen - bei weniger Personal. Hier wäre berufspolitisch dringend Handlungsbedarf geboten, um die wenigen praktisch tätigen Kolleginnen und Kollegen nicht komplett zu "verheizen".
Technische Innovationen: Lösung oder neues Problem?
Neuere Systeme gegen Dekubitus sollen die Eigenmobilität des Betroffenen durch taktile Reize fördern. Man nennt solche Systeme "intelligente Matratzen". Können solche intelligenten Systeme das Pflegepersonal "ersetzen"? Keinesfalls, denn die Systeme müssen richtig eingesetzt und vor allem kontrolliert werden. Doch immer wieder sieht man, dass beim Einsatz von Hilfsmitteln gegen Dekubitus fälschlicherweise vom Pflegepersonal angenommen wird, dass man nun nicht mehr positionieren muss. Ein anderes Problem umfasst die Auswahl des richtigen Hilfsmittels: Matratzen können zwar am Gesäß Dekubitus vorbeugen, nicht jedoch einen Dekubitus an den Fersen.
Seit einigen Jahren gibt es Hilfsmittel, die entweder neue Funktionen aufweisen wie die Regulation des Mikroklimas oder die automatische Positionierung des Betroffenen. Interessant erscheinen sensorisch arbeitende Hilfsmittel, die durch eine Druckmessung in der Matratze die Beweglichkeit des Betroffenen feststellen. Liegt er zu lange auf einer Stelle, reagiert die Matratze automatisch und entlastet den Betroffenen vom Druck oder es alarmiert das Pflegepersonal. Diese Systeme können sogar noch mehr: Sie können auch die Vitalzeichen überwachen, auf Feuchtigkeit oder erhöhte Temperatur an der Haut hinweisen und die Ergebnisse auswerten. (Abb. 1, Abb. 2, e-only). Ein Problem ist bis jetzt nicht gelöst: Wie lange darf ein gefährdeter Patient auf einer Stelle liegen, so dass keine Druckschädigung einsetzt? Da diese Zeit individuell unterschiedlich ist, kann keine einheitliche Antwort darauf gefunden werden.
Das Problem, dass eine Entstehung des Dekubitus im tiefen Gewebe von außen nicht gesehen werden kann, ist mit neueren Techniken angegangen worden: Diese können bis zu einer Tiefe von 4 mm im Gewebe messen, ob an der gemessenen Stelle Symptome wie Ödeme vorhanden sind. Damit lassen sich zumindest erste Anzeichen von Druckgeschwüre einige Tage vorher erkennen und eine Prophylaxe noch einleiten.
Pflege einfach machen
Dekubitalgeschwüre treten aktuell immer noch in vielen Einrichtungen auf, vor allem bei Schwerkranken und Sterbenden.
Auch bei sorgfältiger Versorgung kann ein Dekubitus nicht immer verhindert werden.
Betrachtet man die Erfordernisse für die Zukunft, so sind zwar neuere technische Möglichkeiten zu erwarten, doch auch bei Einsatz solcher Systeme kann nicht automatisch damit gerechnet werden, dass in Zukunft weniger Druckgeschwüre auftreten.
Vielmehr muss das Pflegepersonal sehr kompetent sein, um technische Möglichkeiten korrekt anzuwenden. Gut qualifiziertes Personal kann nicht durch Technik ersetzt werden.