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Erschienen in: Pflegezeitschrift 5/2020

01.05.2020 | Chronische Wunden | Pflege Wissenschaft Zur Zeit gratis

Chronische Wunden in stationären Pflegeeinrichtungen

verfasst von: Prof. Dr. Sabine Bohnet-Joschko, Regina Wiedemann, Ph.D.

Erschienen in: Pflegezeitschrift | Ausgabe 5/2020

Zusammenfassung

Der Prozess der Wundversorgung in stationären Pflegeeinrichtungen ist komplex und erfordert eine hohe Expertise. Die ausschließlich bewohnerbezogenen Regelprozesse mit den bekannten Schnittstellenproblemen stellen Pflegeheime vor Herausforderungen und lassen sie an ihre Grenzen stoßen. Sie befördern gleichzeitig das Auftauchen neuer Akteure, sogenannter Homecare-Unternehmen, die im deutschen Gesundheits- und somit auch im Vergütungssystem nicht vorgesehen sind. In den aktuellen Versorgungsstrukturen übernehmen Homecare-Unternehmen zunehmend den Prozess der Wundversorgung. Sie finanzieren sich über Rezeptgeschäft, d. h. über Rabatte der Hersteller. Für Pflegeheime eröffnen Homecare-Unternehmen eine willkommene Möglichkeit, die komplexen Anforderungen im Versorgungsprozess bei gleichzeitiger Einsparung eigener Ressourcen zu erfüllen.
Ein Einblick in Versorgungsstrukturen und -prozesse Ein Viertel aller Pflege- bedürftigen in Deutschland lebt in Pflegeheimen, mehr als 6% der Bewohner wiesen 2015 behandlungsbedürftige chronische Wunden auf (MDS 2017). Eine qualitative Untersuchung hat hinterfragt, wie beteiligte Akteure die Wundversorgung erleben und dabei auch die Rolle von Heimleitungen und Pflegenden betrachtet. Die Ergebnisse zeigen enorme Herausforderungen für Heime bei der ausschließlich bewohnerbezogenen Versorgung.
Schnittstellenprobleme zwischen stationären Pflegeeinrichtungen und Hausärzten sind seit langem in der medizinischen Versorgung von Bewohnern bekannt - seien es Defizite in der Kommunikation, bei der Koordination, die zu geringe Anzahl von Hausbesuchen oder die fehlende gemeinsame Dokumentation. In den vergangenen Jahren wurden in Deutschland immer wieder Wege zur besseren medizinisch-pflegerischen Versorgung diskutiert und gesetzliche Anreize sowie Konzepte auf den Weg gebracht, um die Versorgung von Bewohnern in stationären Pflegeeinrichtungen zu verbessern. Ende 2018 wurde das Pflegepersonal-Stärkungsgesetz verabschiedet, seitdem müssen die Leistungserbringer verpflichtend Kooperationsverträge schließen.

Entscheidungsprozesse in der Wundversorgung analysiert

Eine Studie der Universität Witten/Herdecke hatte das Ziel, Einblicke in Versorgungsentscheidungen beim Einsatz von Medizinprodukten in Pflegeheimen zu gewinnen und Rollen der verschiedenen Akteure und deren Bedeutung im Entscheidungsprozess der Wundversorgung zu analysieren. Dazu wurden 2018 in Nordrhein-Westfalen leitfadengestützte Interviews in vier Einrichtungen unterschiedlicher Heimträger mit der Leitung und einer Pflegefachperson, die Bewohner mit Wunden versorgt, geführt. Die Heime versorgten durchschnittlich 106 Bewohner, die Rate an chronischen Wunden betrug 7,4 %. Ergänzend wurden Hausärzte, Wundmanager von Homecare-Unternehmen und weitere Experten befragt, insgesamt wurden 19 Interviews geführt (Wiedemann & Bohnet-Joschko 2019).

Enorme organisatorische Herausforderungen

Die ausschließlich bewohnerbezogene Versorgung stellt Heime vor enorme organisatorische Herausforderungen. Heilmittel wie Wundauflagen müssen personenbezogen rezeptiert und verwendet werden, d.h. für jeden Bewohner muss der betreuende Hausarzt die entsprechenden Produkte verschreiben, Rezepte müssen an die Apotheke bzw. das Homecare-Unternehmen weitergeleitet, Produkte dann an das Heim geliefert werden. Alle Materialien werden im Zimmer des jeweiligen Bewohners gelagert, den Verbandwechsel führen die Pflegenden in der Einrichtung durch. Das Management bewohnerbezogener Versorgungsprozesse ist von den Pflegenden zu gewährleisten. Heimleitungen und Pflegende beschreiben folgende Herausforderungen/Probleme:
Kommunikation: Die Kommunikation mit dem Hausarzt von der Kontaktaufnahme, Versorgungsentscheidung zur Wundversorgung bis zur Rezeptausstellung ist schwierig, aufwendig und zeitraubend: "Also es sind viele, viele Stunden die Pflegekräfte in der üblichen Pflegeheimversorgung dafür aufbringen müssen, um die ärztliche Versorgung sicherzustellen. Das ist wahnsinnig frustrierend für sie. Immer nur Bittstellerin zu sein und hinterher zu telefonieren." Am häufigsten wird die Übermittlung der Information über eine Wunde per Fax genutzt, da diese weniger zeitintensiv ist als zu telefonieren, die Heime so ihre Koordination dokumentiert nachweisen können und mit dem Antwortfax eine ärztliche Anordnung vorliegt.
Hausbesuch: Hausärzte kommen aufgrund mangelnder Zeit immer seltener oder in großen Abständen zu Hausbesuchen in die Einrichtung, wenn sie wenige Bewohner in der Einrichtung betreuen und/oder Hausbesuche im Verhältnis zwischen Zeitaufwand und Vergütung als nicht attraktiv empfinden: "Hausbesuch macht er nur selten, lässt sich alles schicken."
Dokumentation: Da es keine gemeinsamen Dokumentationssysteme gibt, nutzt das Pflegeheim eine eigene Pflegedokumentation, die nicht mit dem Hausarzt vernetzt ist.
Verordnungen: Die Verordnungen zur Wundversorgung entsprechen nicht immer den aktuellen Leitlinien, beziehungsweise der evidenzbasierten Wundtherapie, vor allem wenn Hausärzte eine Wundversorgung rezeptieren, ohne die Wunde selbst gesehen zu haben: "Wenn ein Hausarzt sagt 'Nein, Branolindsalbe oder Betaisodona Salbe, Kompresse, Fixomull, fertig und dann gucken wir', wo ich schon von vornherein weiß, das wird nichts. Entspricht nicht mehr dem heutigen Standard und auch nicht den Expertenstandards."
Verordnete Materialien der konventionellen Wundbehandlung müssen aufgrund der ärztlichen Anordnung entgegen besseren Wissens genutzt werden: "Ich muss diese Behandlung durchführen, weil sie ärztlich verordnet wurde." Gleichzeitig stehen sie gegenüber dem MDK in der Rechtfertigungspflicht hinsichtlich der Wundbehandlung und deren Verlauf.
Materialengpässe: Unterschiedliche Gründe können zu Materialengpässen führen, beispielsweise weil Patienten zum Wochenende aus dem Krankenhaus in ein Pflegeheim verlegt werden und keine Materialien zur Wundversorgung mitgegeben wurden und gleichzeitig in der Einrichtung keinerlei Material vorhanden ist: "In solchen Fällen ist das immer so problematisch, weil man theoretisch nichts haben darf, noch nicht mal eine Kompresse, die nicht bewohnerbezogen ist."
Eine andere Situation entsteht, wenn Folgerezepte nicht rechtzeitig ausgestellt werden. Heimleitungen berichten davon, dass dies eher geschieht, wenn sie allein in der Koordination mit dem Hausarzt sind: "Was bei den Ärzten schon mal vorkommen kann, dass Kompressen fehlen, Fixomull fehlt, die Salbe zu Ende ist, obwohl die schon vor zwei Wochen bestellt wurden. Dann heißt es telefonieren, hinterher rennen, Apotheke informieren ,Fahrt bitte hin und holt das Rezept. Ich habe nichts mehr'."

Lösungsansatz: Homecare-Unternehmen einbeziehen

Aufgrund dieser Probleme beziehen Pflegeheime Homecare-Unternehmen bei Zustimmung des Hausarztes durchgehend mit ein: "Bei chronischen Wunden ist zu prozentual 99,8% dann die Firma XY immer mit im Boot." Diese Homecare-Unternehmen bieten kostenfrei an, den Prozess der Wundversorgung im Wesentlichen zu übernehmen. Die Mitarbeiter der Pflegeheime sehen den Einbezug von Homecare-Unternehmen positiv, da Zeit und Personal eingespart werden können. Die Einrichtungen werden dann in den gesamten weiteren Prozess der Materialbeschaffung nicht einbezogen: "Da sind wir als Einrichtung aus der Nummer raus. Der externe Wundmanager fährt zu den Hausärzten, bespricht die Sachen mit den Hausärzten, besorgt sich die Rezepte, liefert uns die Materialien." Gleichzeitig empfinden sie die Wundversorgung durch Homecare-Unternehmen als qualitativ besser für den Bewohner: "Wir haben Erfahrungen, dass diese Wundexperten wirklich sehr gut sind, die Wunden deutlich schneller heilen, wenn ein Wundexperte dran ist mit den entsprechenden Materialien."
Aus diesem Grund halten nahezu alle Pflegeheime Kooperationen mit Homecare-Unternehmen vor, wobei diese inhaltlich durchaus unterschiedlich ausgestaltet sind. Überwiegend regeln Einrichtungen ihre Zusammenarbeit über eine Kooperationsvereinbarung mit dem Homecare-Unternehmen. Hier bedarf es von Seiten des Heimes keiner schriftlichen Zustimmung der Bewohner. Eine Heimleitung sagt: "Wir informieren schon den Angehörigen darüber, was wir vorhaben. Das ist auch unser Kooperationspartner. Aber nein." Eine schriftliche Zustimmung des Bewohners empfindet sie auch nicht als sinnvoll, damit würde man Zeit verlieren. Gleichwohl verweisen alle Heimleitungen auf das Selbstbestimmungsrecht ihrer Bewohner, das sie als Organisationen einhalten: "Wenn Bewohner und Angehörige sagen 'ich möchte den Mitarbeiter nicht sehen oder wir möchten nichts von dem Homecare-Unternehmen, weil die sind immer so teuer' dann ist das natürlich auch raus." Grundsätzlich beinhalten die Verträge mit den Homecare-Unternehmen keine Vergütung von Seiten des Pflegeheimes. Pflegende hinterfragen nicht, wie diese Leistungen finanziert werden. "Nein [keine Vergütung für die Kooperation] aber das Homecare-Unternehmen bekommt auch alle Bewohner, die wir auch hier haben. Das sind hier auch Sonden, oder andere Hilfsprodukte, zum Beispiel Katheter, Urinbeutel, Stomaversorgung." Es ist ihnen insofern durchaus bewusst, mit welchen Produkten Homecare-Unternehmen ihr Rezeptgeschäft machen - die aufwendige Wundversorgung wird hier teilweise als Eintritt in die Gesamtversorgung des Heims mit Materialien verstanden.
Durch die Angebote der Homecare-Unternehmen hat sich der Prozess der Regelversorgung stark verändert: Bei der Wundversorgung bisher in der Verantwortung der Heime liegende Aufgaben werden zunehmend an Homecare-Unternehmen übertragen. Ein Vergleich des Regelprozesses mit der neuen Versorgung zeigt die Unterschiede (Abb. 1).

Rolle der Pflegenden ändert sich

Regulierung und der Kostendruck im Gesundheitswesen tragen dazu bei, dass Pflegeheime Kooperationen mit Homecare-Unternehmen eingehen. Das Heim kann seine Kosten reduzieren und so die ökonomische Situation verbessern, indem es weniger personelle Ressourcen mit Fachwissen, d.h. Pflegende mit Weiterbildung im Bereich der Wundversorgung, vorhalten muss oder Schulungen der Mitarbeiter ohne Vergütung seitens des Homecare-Unternehmens erhält. Ein Teil der Heimleitungen sieht diese ökonomischen Anreize durchaus kritisch und versucht weiterhin, eigene Pflegeexperten im Bereich der Wundversorgung vorzuhalten. Gleichzeitig werden Pflegeheime durch die Übernahme des gesamten Beschaffungsprozesses durch Homecare-Unternehmen entlastet. Damit werden zugleich Risiken einer adäquaten Wundversorgung und Dokumentation an das Homecare-Unternehmen abgegeben. Formal bleibt der Versorgungsauftrag jedoch bei den Pflegeheimen, die verpflichtet sind, Personal mit Qualifikation und Wissen für eine adäquate Versorgung vorzuhalten. Durch die verstärkte Einbindung von Homecare-Unternehmen besteht die Gefahr, dass sich Aufgaben und Rollen der Pflegenden im Heim verändern.

Expertise wird ausgelagert

Wundversorgung in Pflegeheimen erfordert eine Zusammenarbeit von Pflegenden, Hausärzten und Lieferanten und setzt aufgrund des sich schnell verändernden Wissens zur Wundversorgung und moderner Materialien regelmäßige Auffrischungskurse zur Aufrechterhaltung der Expertise aller Akteure voraus.
Je nach Perspektive der Akteure stehen unterschiedliche Bedarfe vor dem Hintergrund des Gesundheitssystems mit dem Wirtschaftlichkeitsgebot im Mittelpunkt, in dem begrenzte Mittel über unterschiedliche Regulierungen und Reglementierungen gesteuert werden. Das System ist extrem heterogen und unübersichtlich und somit kaum verständlich für die einzelnen Beteiligten. Das fördert die Bildung neuer Akteure und Strukturen - hier Homecare-Unternehmen -, die um die komplexen Zusammenhänge wissen und sich nach und nach aus dem Bereich der Lieferung hin zur Übernahme des Gesamtprozesses entwickelt haben. Pflegeheime und Hausärzte können über die Externalisierung der Prozessschritte in der Wundversorgung an Homecare-Unternehmen Personalressourcen und Kosten für fachliche Qualifikation einsparen, ohne dass ihnen Kosten entstehen. Nur ein Teil der Hausärzte will demgegenüber noch die ärztliche Souveränität wahren und seine budgetrelevanten Ausgaben selbst bestimmen. Bewohner leiden unter Kooperationen mit Homecare-Unternehmen nicht, solange sie Materialien nicht selbst zahlen müssen: Da die Einnahmen der Homecare-Unternehmen aus den jeweils verhandelten Herstellerrabatten entstehen, werden bevorzugt Produkte mit höherer Marge, häufig teurere Produkte, eingesetzt.

Fazit

Der bewohnerbezogene Prozess der Wundversorgung stellt Pflegeheime vor Herausforderungen.
Homecare-Unternehmen bedienen dies mit ihrem Geschäftsmodell und haben sich als zusätzliche Akteure etabliert, auch wenn sie im Gesundheits- und Vergütungssystem nicht vorgesehen sind.
Homecare-Unternehmen übernehmen Aufgaben der Pflegeheime und ermöglichen ihnen damit, Aufwand zu externalisieren.
Durch die Verlagerung von Expertise an Homecare-Unternehmen besteht die Gefahr, dass sich die Rolle der Pflegenden verändert.

Literatur

  • Medizinischer Dienst des Spitzenverbandes Bund der Kranken-kassen e.V. (MDS) (2017) 5. Pflege-Qualitätsbericht des MDS nach § 114A Abs. 6 SGB XI. Qualität in der ambulanten und stationären Pflege. MDS, Essen
  • Wiedemann R, Bohnet-Joschko S. (2019) Emergente Strukturen in der Wundversorgung. Beratung zu und Verschreibung von Medizinprodukten im Pflegeheim. Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie. 52 (8) 737-742. DOI 10.1007/s00391-019-01610-7

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Metadaten
Titel
Chronische Wunden in stationären Pflegeeinrichtungen
verfasst von
Prof. Dr. Sabine Bohnet-Joschko
Regina Wiedemann, Ph.D.
Publikationsdatum
01.05.2020
Verlag
Springer Medizin
Erschienen in
Pflegezeitschrift / Ausgabe 5/2020
Print ISSN: 0945-1129
Elektronische ISSN: 2520-1816
DOI
https://doi.org/10.1007/s41906-020-0701-3

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