Die im Einzelfall auftretenden Probleme, die Case Management
indizieren, haben höchst unterschiedliche Hintergründe.
5 Da sind zum einen personale Probleme, die mit der Person des auf Pflege angewiesenen Menschen verbunden sind. Dabei handelt es sich etwa um psychisch erkrankte Menschen ohne Krankeneinsicht mit Pflegebedarf, die etwa Compliance-Probleme hinsichtlich Hilfen aufweisen. Es können soziale Problemstellungen neben dem pflegerischen Case Management bestehen, etwa wenn in der Familiensituation erhebliche Spannungen bestehen, Menschen in sozialer Isolation leben oder die Ressourcen für die Existenzsicherung nicht ausreichen. Auch Phänomene unzureichender Hygiene, gerne als
Vermüllungssyndrom oder Diogenes-Syndrom (Hofmann
1992) bezeichnet, können Case Management indizieren. Diese personalen Probleme lassen sich bei aller Individualität typisieren und es gilt, ggf. Strategien für gleich gelagerte Fälle in Case Management-basierten Vorgehens- und Kooperationsroutinen zu entwickeln, die wirksame Hilfe in aufeinander abgestimmter Weise gewährleisten. Case Management-Indikationen können sich auch dadurch ergeben, dass die benötigten Hilfen und Dienste zwar vorhanden sind, aber nicht zugänglich gemacht werden, etwa werden MRSA-Patienten aus dem Krankenhaus nicht in eine Kurzzeitpflegeeinrichtung aufgenommen werden, bei sozialhilfeberechtigten Personen Probleme mit der Aufnahme in eine ambulant betreute Wohngemeinschaft bestehen oder Pflegeheime die Aufnahme von BTM-Patienten ablehnen. In diesen Fällen hat das Case Management im Wesentlichen seine Gatekeeper-Funktion wahrzunehmen, im Einzelfall nach Möglichkeit aber auch darüber hinaus die Probleme, die sich als Ablehnung des Systems darstellen, zu überwinden. Case Management-Indikationen können sich überdies aus Versorgungslücken ergeben, sei es, weil für eine bestimmte Zielgruppe keine Angebote zur Verfügung stehen, etwa für junge Menschen mit einem stationären Pflegebedarf oder für Menschen mit Schwerst-Mehrfach-Behinderung und Pflegebedarf, für die es keine geeigneten oder den Präferenzen entsprechenden Einrichtungen gibt (Klie
2019). Es kann sich allerdings auch um regionale Versorgungsengpässe
handeln, die etwa daraus resultieren, dass ambulante Dienste nicht in der Lage sind, weitere Patienten anzunehmen. Typisch ist auch das Fehlen von solitären Kurzzeitpflegeeinrichtungen, die sowohl im Zusammenhang mit Krisensituationen in der häuslichen Versorgung als auch bei Krankenhausentlassung fehlen. In diesen Konstellationen kommt es in besonderer Weise darauf an, dass die im Einzelfall gesammelten Erfahrungen mit Versorgungsproblemen auf der Systemebene aufgegriffen und im Sinne der Einlösung des Sicherstellungsauftrages für die Weiterentwicklung der Infrastruktur genutzt werden. Versorgungsprobleme, die Case Management indizieren, können auch dergestalt sein, dass zwar Einrichtungsplätze zur Verfügung stehen, die Voraussetzungen für die Aufnahme jedoch nicht gegeben sind – sei es in der Kurzzeitpflege
die Verordnung von Medikamenten aus dem Klinikbereich oder fehlende ambulante Palliativangebote jenseits von Fällen der Spezialisierten ambulanten Palliativversorgung (SAPV). Hier kommt dem Case Management die Funktion zu, im Einzelfall die operativen Versorgungsprobleme zu lösen und über den Einzelfall hinaus einen Beitrag dazu zu leisten, damit sich die Prozeduren der Leistungsgewährung respektive der aufeinander abgestimmten Leistungen verbessern lassen. Auch rechtliche Vertretungsmängel bei fehlender Vorsorgevollmacht oder (noch nicht) bestellten gesetzlichen Betreuern können Case Management indizieren, wobei hier streng zu unterscheiden ist zwischen der Notwendigkeit einer sozialen Unterstützung und einer rechtlichen Betreuung im Sinne des § 1896 BGB.
6 Gesetzliche Betreuungen sind nicht dazu da, Versorgungsmängel und Defizite in der sozialen Unterstützung zu kompensieren. Schließlich kann Case Management
dort indiziert sein, wo die Leistungsgrenzen der jeweiligen Institutionen erreicht sind. Pflegebedürftige mit hirnorganischen Veränderungen (Demenz
) können in der eigenen Häuslichkeit besonderen Versorgungsrisiken ausgesetzt sein, die ein ambulanter Dienst oder auch pflegende Angehörige nicht auffangen können, Pflegearrangements mit osteuropäischen Haushaltshilfen können an die Grenzen der fachlichen und kommunikativen Grenzen gelangen, was Versorgungsprobleme und damit Case Management provoziert (AG Garmisch-Partenkirchen, Beschluss vom 28. Mai 2019 – A XVII 9/18 – juris). Kurzzeitpflegeeinrichtungen sind konfrontiert mit Situationen einer nicht sichergestellten Nachversorgung respektive Rückkehr in die eigene Häuslichkeit. Auch hier kann Case Management indiziert sein – und wiederum nicht allein im Sinne der Problemlösung im Einzelfall, sondern (auch) in einer Qualifizierung des Gesamtsystems: Jeder Einzelfall ist ein Anlass zum Lernen für das Gesamtsystem. Eine derartige, konsequent vom Einzelfall her entwickelte Systemsteuerung ist in einem Anbietermarkt, der ganz andere Kalküle für die Angebotsentwicklung kennt als (allein) die örtliche und regionale Bedarfssituation, notwendig, um den Sicherstellungsaufrag
im Einzelfall einzulösen und die Vorgaben des Sozialleistungsrechtes umzusetzen, eine bedarfsgerechte wohnortnahe Versorgung zu gewährleisten. Insofern ist ein wirksames Care und Case Management Seismograph für Versorgungsprobleme und Promotor bedarfsgerechter Infrastrukturentwicklung. Eingebettet in regionale Planungsstrategien wird, wie Abb.
11.1 deutlich macht, das Case Management zu einem zentralen Bestandteil bedarfsgerechter Infrastrukturentwicklung.
Von einem solchen Bild ineinandergreifender Care und Case Management-Strukturen ist die Wirklichkeit der Pflegeberatung und der kommunalen Pflegeplanung weit entfernt (vgl. auch Braeseke et al.
2019). Faktisch bezieht sich die Pflegeberatung
, die in den Händen der Pflegekassen liegt, auf die Information über Rechtsansprüche und die Aufstellung eines standardisierten Versorgungsplans. Damit werden mitnichten die mit dem Care und Case Management verbundenen Anliegen umgesetzt und die zum Teil eklatanten Versorgungsprobleme aufgegriffen. Überdies fehlt es an einer umfassenden Awareness-Struktur für Versorgungsprobleme auf Pflege angewiesener Menschen. Diese könnte durch Konzepte wie das der subjektorientierten Qualitätssicherung (Klie und Büscher
2019) mit Hilfe des MDK im Rahmen der Pflegebegutachtung
gefördert werden. Eine systematische Nutzung der MDK-Daten aus dem Begutachtungsverfahren könnte zu einer wesentlich größeren Sensitivität des Gesamtsystems gegenüber Problemlagen beitragen und das weithin vernachlässigte Geschehen in der häuslichen Pflege einbeziehen.