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Erschienen in: Heilberufe 3/2019

01.03.2019 | Pflege Alltag Zur Zeit gratis

Betreutes Trinken

verfasst von: Redaktion HEILBERUFE

Erschienen in: Heilberufe | Ausgabe 3/2019

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Dreimal täglich ein Glas Wein, Bier oder Sekt Im Düsseldorfer Altenzentrum St. Josef dürfen alkoholabhängige Senioren, was in vielen Pflegeheimen offiziell verboten ist: Trinken unter Aufsicht. Aber das Ziel bleibt Abstinenz.
Der Boden im Altenheim St. Josef glänzt, die Flure sind breit, die Bewohner sitzen an einem Buchenfurniertisch im Tagesraum und gucken auf den Fernseher oder aus dem Fenster. In der Ecke steht ein Kicker-Tisch, an der Wand hängt einsam eine Dart-Scheibe - im Altenzentrum St. Josef sieht es aus wie in anderen deutschen Altenheimen.
Der Vorratsraum, in dem Bier, Sekt, Rot- und Weißwein für die Bewohner gelagert wird, liegt hinter einer unscheinbaren Tür gegenüber vom Tagesraum. Harry G. steht schon wartend davor, es ist 15:55 Uhr. "Ich bekomme ein Glas Wein gleich, was ich auch genieße. Ich habe meine Ausgaben pünktlich um eins, um vier und um 20 Uhr." Es wird sein zweites Glas Weißwein heute sein. "Weißwein ist für die Seele", sagt er. Harry Gr. weiß nicht so genau, was das eigentlich für ein Weißwein ist, den er gleich bekommt. "Wir haben früher einen anderen gehabt, der war besser. Aber wir müssen mit dem, was wir bekommen, auskommen." Der Pfleger, der ihm Wein in ein kleines Wasserglas ausschenkt, guckt nach: Es ist ein trockener Rivaner. Für Herrn G. dürfte es auch etwas süßer sein, aber er ist froh, dass er überhaupt etwas bekommt: "Das ist kontrolliertes Trinken, das klappt wunderbar."
Harry G. lebt seit zehn Jahren im Altenheim St. Josef. Anfangs trank er noch mehr, mittlerweile schafft er es meist, sich sein Glas vom Nachmittag für abends aufzuheben - fürs Fernsehen am Abend. Das ist nicht immer so: "Manchmal hat man so Ausreißer. Da schäme ich mich auch nicht für. Ab und zu hat man so 'Nachdurst'." Wer oder was die Auslöser für seine gelegentlichen Exzesse sind, darüber spricht er höchstens mit den Pflegern. Die nähmen es ernst, wenn ein Bewohner sich offensichtlich betrunken hat. "Wenn der Bewohner sich auffällig verhält, können wir den Alkohol im Blut testen. Das machen wir auch", erklärt Tino Gaberle, Einrichtungsleiter des Altenzentrums. Dann fällt auch schon mal eine Alkohol-Ausgabe aus und es wird das Gespräch gesucht.
Trotzdem: Ob und was die Bewohner zwischen den drei Alkohol-Ausgaben trinken, kriegen die Pfleger mitunter nicht mit. "Kontrollieren dürfen wir nicht", sagt Tino Gaberle. "Die Bewohner haben ja auch ein Mietverhältnis mit uns, das ist ihre Privatsphäre und da haben wir, ohne dass die Bewohner ihre Zustimmung geben, in Zimmerschränken nichts zu suchen."
Falls Exzesse zunehmen, sollen die Pflegenden verstärkt darauf achten, ob es aktuell ein Problem gibt. Dazu sind die Pflegenden weitergebildet worden. Tino Gaberle hat Erfahrungen gesammelt, warum der Alkoholkonsum mitunter stark schwankt: "Oftmals ist ja diese Alkoholsucht ausgelöst worden durch eine Art Lebenskrise: Verlust von Kindern oder Ehepartnern. Und wenn sich dieser Tag jährt, dann nimmt der Alkoholgenuss auch zu."

Offen mit Alkoholsucht umgehen

Das Altenzentrum St. Josef hat acht Jahre Erfahrung mit suchtabhängigen Bewohnern. "Das Problem ist, dass der Alkoholkonsum bei älteren Menschen in einem normalen Pflegeheim zu 60% nicht erkannt wird. Das heißt, der riskante Alkoholgebrauch bei älteren Menschen - bei Männern liegt das bei 24 g am Tag, bei Frauen bei 12 g am Tag - der wird oftmals gar nicht erkannt, sondern mit einer Demenzform verwechselt oder mit psychischen Erkrankungen. Deswegen gehen wir hier ganz offen damit um", sagt Tino Gaberle. Da es in diesem Bereich vorher kaum Erfahrung oder Forschung gab, wurde das Konzept in der Praxis entwickelt. Anfangs bekommen die Bewohner ungefähr so viel zu trinken, wie sie gewohnt sind. In Absprache mit Hausarzt und Bewohner wird der Konsum dann langsam heruntergefahren. Ziel ist es, dass die Bewohner ein nicht mehr gesundheitsgefährdendes Maß oder sogar die Abstinenz erreichen.
"Die Schritte bis zur Abstinenz sind sehr kleinteilig und langwierig. Das heißt, wir brauchen teilweise Jahre, bis es soweit ist. Einige wollen es aber auch nicht." Zurzeit leben im Suchtbereich des Altenzentrums 15 Bewohner, nur drei von ihnen sind Frauen. Im Schnitt sind sie 70 Jahre alt. Im Rest des Altenzentrums sind die Bewohner rund zehn Jahre älter, erzählt Tino Gaberle. "Sie sind oftmals dadurch, dass sie noch jünger sind, körperlich noch in einem besseren Zustand als die anderen Bewohner. Allerdings ist die psychische und seelische Betreuung eine größere Herausforderung. Deswegen haben wir hier einen etwas besseren Stellenschlüssel als im Rest des Hauses."
Ziel sei es immer, dass die Bewohner durch Beschäftigung von der Sucht abgelenkt werden und wieder am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Durch eine feste Tagesstruktur und dadurch, dass sie sich um ihren Alkoholkonsum keine Sorgen mehr machen müssen, weil er fest eingeplant ist, sollen sie sich gedanklich von ihm stärker lösen können, als das vor dem Umzug in die Pflegeeinrichtung der Fall war. "Das Problem ist, dass diese Menschen zu Hause durchs Raster gefallen sind. Sie verwahrlosen, konnten sich nicht mehr pflegen und hatten keine sozialen Kontakte mehr."

Die Nachfrage ist groß

Aktuell wird die Sucht-Station im Altenheim St. Josef noch erweitert, weitere 19 Betten soll es ab Mai 2019 geben - der Bedarf ist groß: "Ich bekomme Anfragen aus ganz Nordrhein-Westfalen, manchmal auch aus Süddeutschland", erzählt Tino Gaberle. In der neuen Station soll es auch Plätze für medikamenten- und drogenabhängige Pflegebedürftige geben. "Wir sind da aktuell noch in der Konzeptentwicklung, wie mit solchen Bewohnern umzugehen ist. Dazu haben wir uns auch schon ähnliche Einrichtungen und deren Konzepte angeschaut und passen das jetzt für uns an", sagt Tino Gaberle. Er rechnet damit, dass der Altersdurchschnitt auf der Suchtstation durch drogenabhängige Bewohner weiter sinken wird. Bald könnten schon Mitte-40-Jährige hier einziehen, vermutet er. Damit sich alle Mitarbeiter sicher im Umgang mit den neuen Bewohnern fühlen, gibt es Fortbildungen. Hier geht es um Medikamentenmanagement, Kommunikation mit Suchterkrankten und speziell den Umgang mit medikamentenabhängigen Menschen.
Noch sind die alkoholabhängigen Bewohner unter sich. Die meisten ziehen aus anderen Pflegeheimen, einem Krankenhaus oder von der Straße hier ein. Hermann G. ist eine Ausnahme: Er hat vorher alleine zu Hause gelebt, nachdem er Frau und Kind verloren hatte. Herr G. war früher Abteilungsleiter, er bleibt auf der Station eher für sich. In vielen anderen Pflegeheimen würde man ihm seine drei Bier pro Tag verweigern, hier bekommt er sie zu festen Zeiten. "Was ich trinke, ist für mich normal", sagt er. Dass er auf einer speziellen Suchtstation lebt, darüber möchte er auch nicht sprechen: "Ich bin hier zufrieden", sagt er beim Abschied und fährt in seinem Rollstuhl in Richtung Gymnastikstunde.
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Metadaten
Titel
Betreutes Trinken
verfasst von
Redaktion HEILBERUFE
Publikationsdatum
01.03.2019
Verlag
Springer Medizin
Erschienen in
Heilberufe / Ausgabe 3/2019
Print ISSN: 0017-9604
Elektronische ISSN: 1867-1535
DOI
https://doi.org/10.1007/s00058-019-0013-4

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