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Open Access 2021 | OriginalPaper | Buchkapitel

15. Ausgezeichnete Quartiersarbeit – Modelle für die Vernetzung von Pflege und bürgerschaftlichem Engagement

verfasst von : Heike Wehrbein, Melanie Hanemann

Erschienen in: Pflege-Report 2021

Verlag: Springer Berlin Heidelberg

Zusammenfassung

Um ein selbstbestimmtes Leben auch bei Unterstützungsbedarf führen zu können, braucht es förderliche Bedingungen vor Ort – insbesondere vor dem Hintergrund sich verändernder Familienstrukturen und fehlender Fachkräfte in der Pflege. Diese Bedingungen kleinräumig und bedarfsgerecht aufzubauen ist das Ziel von Quartiersprojekten. Akteure in Städten und Dörfern müssen dabei einen Umgang mit sehr unterschiedlichen Voraussetzungen finden. Wie gut das gelingen kann und wie viel sich durch Vernetzung erreichen lässt, zeigen die hier porträtierten Praxisbeispiele. Es sind die fünf besten Kandidaten einer bundesweiten Ausschreibung für den „Pflegeinnovationspreis der Sparkassen-Finanzgruppe 2020“.
Zusammenfassung
Um ein selbstbestimmtes Leben auch bei Unterstützungsbedarf führen zu können, braucht es förderliche Bedingungen vor Ort – insbesondere vor dem Hintergrund sich verändernder Familienstrukturen und fehlender Fachkräfte in der Pflege. Diese Bedingungen kleinräumig und bedarfsgerecht aufzubauen ist das Ziel von Quartiersprojekten. Akteure in Städten und Dörfern müssen dabei einen Umgang mit sehr unterschiedlichen Voraussetzungen finden. Wie gut das gelingen kann und wie viel sich durch Vernetzung erreichen lässt, zeigen die hier porträtierten Praxisbeispiele. Es sind die fünf besten Kandidaten einer bundesweiten Ausschreibung für den „Pflegeinnovationspreis der Sparkassen-Finanzgruppe 2020“.
In order to be able to lead a self-determined life even when in need of support, conducive conditions are needed locally – especially against the background of changing family structures and a lack of skilled nursing staff. Neighbourhood projects aim at creating these conditions on a small scale and in line with needs. Actors in towns and villages must find a way to deal with very different conditions. The practical examples portrayed in this paper show how successful projects work and how much can be achieved through networking. The projects described here are the five best candidates in a nationwide call for entries for the Nursing Innovation Prize of the Sparkassen-Finanzgruppe 2020.

15.1 Einleitung

15.1.1 Was ist der Pflegeinnovationspreis? Warum engagiert sich die Sparkassen-Finanzgruppe?

Zukunftsweisende und gesellschaftlich relevante Pflegepraxis fördern – das ist das Ziel des „Pflegeinnovationspreises der Sparkassen-Finanzgruppe“. Die Auszeichnung ist eine der Kategorien des „Deutschen Pflegepreises“, der jedes Jahr beim „Deutschen Pflegetag“ verliehen wird. Stifter sind die Sparkassen-Finanzgruppe und ihre Kranken- und Pflegeversicherer UKV – Union Krankenversicherung. Die Verbundpartner richten ihr Engagement gezielt auf dieses Feld, weil sie die Pflege als eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung betrachten. Sie möchten die Entwicklung der Pflege aktiv unterstützen, indem sie besonders innovative und modellhafte Projekte durch die Auszeichnung sichtbar machen und so zu ihrer Verbreitung beitragen.

15.1.2 Schwerpunktthema 2020: Pflege im Quartier

Zu Hause wohnen bleiben – das ist für viele Senioren sehr wichtig. Zahlreiche Umfragen belegen das. Kritisch wird es jedoch, wenn körperliche oder kognitive Einschränkungen auftreten und das Bewältigen des Alltags immer schwerer fällt. Allzu oft wird der Auszug aus der vertrauten Wohnung unvermeidlich, weil die Familie sich nicht ausreichend kümmern kann und die benötigten Unterstützungsangebote fehlen. Das Konzept der quartiersnahen Pflege soll solche Versorgungslücken schließen. Ihr Ziel ist, Selbstbestimmtheit durch gezielte Unterstützung in der Lebenswelt zu erhalten, eine stationäre Unterbringung zu vermeiden oder zu verschieben sowie Isolation im Alter abzubauen. Die Grundidee ist, die pflegerische und vorpflegerische Versorgung nach dem spezifischen Bedarf vor Ort zu gestalten – im Dorf, im Stadtteil, im Quartier – und eine bedarfsgerechte soziale Infrastruktur aufzubauen.
Die Preisstifter bewerten quartiersnahe Versorgungsansätze als zukunftsorientiert. Auf individueller Ebene ermöglichen sie bereits heute vielen Menschen mit Hilfebedarf, länger selbstständig im vertrauten Umfeld zu leben. Gleichzeitig erproben die über 1.000 Quartiersprojekte (DStGB 2019) in Deutschland lokale, konstruktive Lösungen für den wachsenden Unterstützungsbedarf einer alternden Gesellschaft. „Die Folgen des demographischen Wandels zeichnen sich schon deutlich ab: Die Zahl der Menschen mit Unterstützungsbedarf wird dramatisch wachsen, während bereits heute in erheblichem Ausmaß Fachkräfte in Pflege und Assistenz fehlen und das Potenzial für die informelle Pflege in den Familien durch veränderte Familienstrukturen abnimmt.“ (Ebd., S. 6) Die etablierten Sorgestrukturen gelangen an ihre Grenzen. Es gilt, sich für neue Ideen und Wege zu öffnen. Um dazu beizutragen, widmen die Sparkassen-Finanzgruppe und die UKV – Union Krankenversicherung die Ausschreibung bereits seit 2017 dem Thema quartiersnahe Pflegeprojekte.
In der Altenpflege hat sich der Begriff „Quartier“ mittlerweile etabliert; jedoch wird er häufig mit einer gewissen Unschärfe verwendet. Deshalb soll hier zunächst die Bedeutung geklärt werden:
„Was Menschen mit dem Begriff Quartier verbinden, ist sehr unterschiedlich. Die Assoziationen reichen vom militärischen Lager über einen Kiez, einen Stadtteil, eine Gemeinde, bis hin zur Gemeinschaft, zum Sozialraum und zur Nachbarschaft… Im Kern geht es bei dem hier verwendeten Begriff Quartier um einen vom persönlichen Alltag geprägten, überschaubaren Raum“ (MASGF 2018, S. 10). Wie in der zitierten Broschüre soll der Begriff auch hier als überschaubares Wohnumfeld verstanden werden, mit dem sich die darin lebenden Menschen identifizieren können.
Auch in der Ausschreibung 2020 wurden überzeugende Quartiersprojekte gesucht. Dafür sollten sie sich mit einer ortsnahen Versorgung und Pflege, Beratungsangeboten, dem Ermöglichen sozialer Teilhabe und bedarfsgerechtem Wohnen befassen. Eine Expertenjury bewertete die Bewerber nach festgelegten Kriterien wie Innovationskraft, gesellschaftliche Bedeutung und Zukunftsfähigkeit. Die fünf bestplatzierten Projekte werden hier als gelungene Praxisbeispiele vorgestellt.

15.2 Praxisbeispiele

15.2.1 Soziales Netzwerk auf dem Land – Nachmachen erwünscht!

Preisträger des Pflegeinnovationspreises 2020 ist Selbstbestimmt Altern auf dem Land in Letzlingen“. Es überzeugte die Jury besonders, weil es sich auf neueste wissenschaftliche Erkenntnisse im Quartiersmanagement und im Bereich Pflegeinnovationen bezieht. Darüber hinaus werden „junge Alte“ durch Präventionsangebote aktiviert – ein Potenzial, das viel häufiger genutzt werden sollte. Das Siegerprojekt punktete überdies beim Kriterium gesellschaftliche Bedeutung, denn seine Grundzüge sollen explizit auf andere ländliche, strukturschwache Kommunen übertragbar sein. „Selbstbestimmt Altern auf dem Land in Letzlingen“ liefert eine Blaupause für viele Regionen in Deutschland. Die Umsetzung ist dennoch konsequent am spezifischen Bedarf der Bürger ausgerichtet. Gewürdigt wurde auch, dass der Träger, die Pfeifferschen Stiftungen mit Sitz in Magdeburg, das Projekt an einem Standort mit großen strukturellen Herausforderungen ansiedelte.
Letzlingen liegt in einer sehr dünn besiedelten, strukturschwachen, ländlichen Region in Sachsen-Anhalt. Der demografische Wandel ist dort längst Realität: Ein Fünftel der rund 1.500 Dorfbewohner ist über 65 Jahre alt, Tendenz steigend. In den nächsten Jahren wird der Anteil an Letzlingern im erwerbsfähigen Alter stark sinken und der gravierende Fachkräftemangel weiter zunehmen. Es gibt große Lücken in der sozialen Versorgung. Für Letzlinger mit Unterstützungsbedarf wird es immer schwieriger, Alltagsanforderungen wie die Haushaltführung und Arzttermine zu meistern und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.
Mittels einer wissenschaftlich begleiteten Sozialraumanalyse, die auch Maßnahmen zur Bürgerbeteiligung umfasste, stellten die Pfeifferschen Stiftungen 2017 die Bedürfnisse der Einwohner über 65 Jahre fest. Anhand der Ergebnisse wurde ein mehrsäuliges Projekt konzipiert, das sukzessive umgesetzt wird. Die Finanzierung erfolgt über Fördermittel der Deutschen Fernsehlotterie.
Eine zentrale Erkenntnis war, dass die Letzlinger nicht barrierearme Wohnungen, sondern einfache Alltagshilfen am dringendsten benötigen. Daraufhin wurde ein ambulanter Betreuungsdienst gegründet. Heute sind über 20 Ehrenamtliche für ältere Mitbürger da. Die Tätigkeit der Betreuer entlastet Pflegedienste und pflegende Angehörige.
Das zweite Herzstück des Projekts war, ein Quartiersmanagement einzuführen. Es übernimmt die Pflegeberatung und schafft ein soziales Netzwerk auf dem Land. Ziel ist, durch Begegnung und Austausch Einsamkeit zu lindern und Versorgungsengpässe im Alter zu vermeiden. Dazu bindet das Quartiersmanagement alle Akteure im Dorf ein. Die „Alten von morgen“ werden gezielt angesprochen, um sie mittelfristig für ehrenamtliche Tätigkeiten zu interessieren.
Durch diverse Angebote vom Smartphone-Kurs über den Kaffeeklatsch bis zur Walking-Gruppe aktiviert das Quartiersmanagement die Dorfbewohner und bringt neues Leben in die Gemeinde. Die Angebote werden größtenteils durch Ehrenamtliche durchgeführt. Innerhalb eines Jahres erreichte eine ambitionierte Quartiersmanagerin, dass die Angebote rege und zahlreich wahrgenommen wurden und der Betreuungsdienst stetig steigende Anfragen verzeichnete.
Viel Wert legen die Akteure darauf, Kompetenz-Netze zu knüpfen. Es gibt zahlreiche Kooperationen, nicht nur mit den Pflegediensten und anderen ortsansässigen Akteuren, sondern auch mit der Hochschule Magdeburg-Stendal und den Landfrauen.
Der nächste Projektschritt ist, einen innovativen Pflegedienst aufzubauen. Er soll das Landleben für Fachkräfte wieder attraktiv machen durch ein Personalkonzept, bei dem die ganzheitliche Versorgung der Patienten im Vordergrund steht. Auch der Bau eines Wohn- und Pflegekomplexes ist geplant.

15.2.2 „SoNO“ – Ein badisches Dorf hilft sich selbst

Ein weiteres ländliches Projekt und gleichzeitig Vorzeigebeispiel für zivilgesellschaftliche Initiative hat es in die finale Auswahl für den Pflegeinnovationspreis geschafft: SoNO – Soziales Netzwerk Ortenberg e. V. Das badische Dorf Ortenberg liegt im Ortenaukreis. Der Ort mit 3.400 Einwohnern verfügt eine gesunde Sozialstruktur. Für das alltägliche Leben nötige Einrichtungen und Geschäfte sind vorhanden.
Deutliche Lücken zeigen sich jedoch bei der Versorgung und der sozial-kulturellen Beteiligung der Älteren, insbesondere der mobil Eingeschränkten. Die Familien sind immer weniger in der Lage, hilfsbedürftige Familienmitglieder vor Ort zu versorgen und bei Bedarf zu pflegen. Diesen Eindruck der Projektgründer bestätigte eine Studie (AGP Sozialforschung 2015)
Eine Gruppe engagierter Bürger um den damaligen Gemeindepfarrer rief den Verein „Soziales Netzwerk Ortenberg e. V.“ 2009 ins Leben. Inzwischen können die Akteure auf mehr als zehn Jahre Aufbauarbeit und eine breite Unterstützungsstruktur blicken. Mittlerweile ist das Netzwerk nicht mehr aus dem Ort wegzudenken: Es ist auf über 80 aktiv Mitarbeitende und 300 Vereinsmitglieder angewachsen. Wie schon zu Beginn wird es ehrenamtlich geleitet.
Konzeptuell bezieht sich die Vereinsarbeit auf das „Freiburger Modell“ (Klie et al. 2006). Hilfen wie nachbarschaftliche Betreuung und Fahrdienste werden möglichst durch Ehrenamtliche geleistet, ansonsten mithilfe vernetzter professioneller Dienste beschafft und zu einem „intelligenten Hilfe-Mix“ verbunden. Mit dem Ziel der Versorgungssicherheit vor Ort hat „SoNO“ fünf Teilprojekte aufgebaut:
1.
Der Verein organisiert und vermittelt ambulante Unterstützung zu Hause (Alltagsbegleitung).
 
2.
Ein Erzähl-Café mit Hol- und Bringdiensten wurde eingerichtet.
 
3.
Auf Abruf begleiten Ehrenamtliche Fahrten, etwa zu Ärzten, Banken, Geschäften oder zum Friedhof.
 
4.
Ein Schulprojekt ist an den Verein herangetragen und angenommen worden. Zur Entlastung der Eltern kümmern sich SoNO-Mitglieder um die Betreuung der Grundschüler, geben Mittagessen aus und helfen zum Beispiel bei den Hausaufgaben.
 
5.
Eine ambulant betreute Pflege-Wohngemeinschaft. Sie ist kleinformatig und sozialraumintegriert konzipiert. Die Pflege-WG „Storchennest“ liegt mitten im Dorf und ist Teil eines neu entstandenen Seniorenzentrums. Die Rund-um-die-Uhr-Betreuung der zwölf Bewohner übernehmen geschulte Mitarbeiter. Die pflegerischen Aufgaben übernimmt ein ambulanter Dienst.
 
Die Idee einer Pflege-Wohngemeinschaft geht auch auf einen Befund einer Bürgerbefragung zurück, die 2015 im Rahmen eines GKV-geförderten Modellprojekts durchgeführt wurde (AGP Sozialforschung 2015). Die Umfrage zeigte Handlungsbedarf im Bereich des altersgerechten Wohnens. In Ortenberg schätzten nur sieben Prozent der Befragten die eigene Wohnung als barrierearm und damit gut geeignet für das Alter ein. 48 % konnten sich vorstellen, bei Bedarf das eigene Zuhause altersgerecht umzubauen. Darauf reagierte SoNO mit dem Angebot der Wohnraumberatung und der Einrichtung der Pflege-WG. Finanziert wird die Projektarbeit durch einen Mix aus Eigenmitteln, Nutzergebühren und Fördermitteln.

15.2.3 Städtisches Wohnen für alle Lebenslagen

Das Goetheviertel in Kaiserslautern weist eine sehr gute Infrastruktur auf: Es gibt ein Einkaufszentrum, Bushaltestellen, Physiotherapie, Schulen, Kindergärten, ein Krankenhaus etc. Das kommunale Wohnungsunternehmen der Stadt Kaiserslautern verfügt dort über rund 400 Bestandswohnungen. 16 % ihrer Mieter im Goetheviertel sind über 75 Jahre alt. Viele von ihnen leben seit über 50 Jahren in diesem Gebiet. Diese Strukturmerkmale veranlassten das Wohnungsunternehmen, die Bau AG Kaiserslautern (Bau AG), ein geplantes Quartiersprojekt im Goetheviertel, umzusetzen. Anlass für die Projektidee war der wachsende Druck, geeigneten und bezahlbaren Wohnraum für hilfebedürftige Personen anzubieten.
Die Bau AG entschied sich für ein Konzept, das sich am „Bielefelder Modell“ (Klingenberg 2018) orientiert. Es entstand das innovative Wohnprojekt Nils – Wohnen im Quartier im Goetheviertel. Der programmatische Name steht für nachbarschaftlich, inklusiv, lebenswert und selbstbestimmt. Nicht nur den Mietern, sondern auch anderen Menschen im umliegenden Gebiet soll ermöglicht werden, bei Hilfebedarf in der eigenen Wohnung – zumindest aber in der gewohnten Umgebung – zu bleiben. Es handelt sich um einen gemeinwesenorientierten Ansatz ohne spezifische Zielgruppe. Vielmehr soll sich eine durchmischte Bewohnerschaft mit unterschiedlichen Lebenslagen (Familien, Senioren, Paare, Singles etc.) zusammenfinden. Menschen mit Hilfe- und Pflegebedarf sind Teil dieser Bewohnerschaft.
2017 hat die Bau AG eigene, stark renovierungsbedürftige Gebäude zurückgebaut. Auf dem Gelände entstanden zwei Neubauten mit 43 Wohneinheiten. Die Mietwohnungen sind so konzipiert, dass auch Rollstuhlfahrer darin zurechtkommen. Für jede Lebenslage ist eine Wohnungsgröße vorhanden.
Eine Besonderheit des Projektaufbaus ist die Trennung von Wohnen und sozialer/pflegerischer Betreuung, was für die Bewohner ein Mehr an Autonomie bedeutet. Die Sicherheit, pflegerisch versorgt zu werden, gewährleistet eine Kooperation mit einem ambulanten Dienst. Die Ökumenische Gemeinschaftswerk Pfalz GmbH (ÖGW) bietet den Quartiersbewohnern ein 24-Stunden-Leistungsangebot mit pflegerischen, hauswirtschaftlichen und sozialen Hilfs- und Betreuungsangeboten. Die Leistungen können täglich zu- und abgewählt werden. Kostenpflichtig sind nur die tatsächlich in Anspruch genommene Tätigkeiten, sodass eine (sonst übliche) Betreuungspauschale entfällt. Der Pflegedienst vermittelt auch Nachbarschaftshilfen. Außerdem hat die ÖGW GmbH eine zusätzliche Wohnung angemietet, in der sie zwei Plätze für Verhinderungspflege anbietet.
Als Bindeglied zwischen Bewohnern, Dienstleistern, Ehrenamtlichen und Behörden fungiert eine Quartiersmanagerin, die vom Pflegedienst gestellt wird. Ihre Aufgabe ist, die Ressourcen der Bewohner zu nutzen und neben multiprofessionellen Dienstleistungen auch das ehrenamtliche Engagement zu fördern.
Das Herzstück von „Nils – Wohnen im Quartier“ ist eine Gemeinschaftsfläche, das Wohncafé „Guud Stubb“. Das Café ist ein Ort der Begegnung und der Kommunikation. Es wird in Eigenregie der Bewohner und ehrenamtlich geführt. Dort gibt es zum Beispiel gemeinsame Mahlzeiten, die von Ehrenamtlichen zubereitet werden, sowie Spielenachmittage, Kaffeestündchen und Näh- und Basteltreffs.

15.2.4 Kaarst „Älterwerden in Büttgen“ – Bürger steuern in Eigenregie

Im Rhein-Kreis Neuss in Nordrhein-Westfalen liegt die Stadt Kaarst. Büttgen ist einer der fünf Stadtteile. Das Viertel ist deutlich von den anderen Stadtteilen abgegrenzt, deshalb fühlen sich die 6.400 Büttger trotz der verhältnismäßig hohen Einwohnerzahl mit ihrem Wohnort verbunden.
In den Jahren 2015 bis 2017 ließ die Stadt einen „Sozialplan Alter“ (FFG 2016) erstellen. Dafür wurden Kaarster Bürger über 60 Jahren zu ihren Problemen und Bedürfnissen befragt. Es zeigte sich, dass nahezu 33 % der Einwohner 60 Jahre und älter sind. Generell wurde klar, dass Maßnahmen entwickelt werden müssen, die ein selbstbestimmtes Leben im Alter mit Unterstützung und Kontakten ermöglichen.
Sowohl im Rahmen der Bedarfserhebungen als auch in Gesprächen in der Projektplanungsphase wurde häufig der Wunsch nach – auch generationenübergreifenden – Kontakten und nach einem offenen Treffpunkt im Stadtteil genannt. Ein häufiger Wunsch war auch mehr Unterstützung bei der Pflege eines Angehörigen. Die Versorgung von Pflegebedürftigen wird in Büttgen zu über 50 % von Personen geleistet, die älter als 75 Jahre sind. Es lag nahe, dass diese selbst körperlich eingeschränkt sind und Unterstützung benötigen. Des Weiteren wurde deutlich, dass vorhandene Unterstützungsangebote zu wenig bekannt sind und Mobilitätsprobleme bestehen.
Über Anschlussgespräche an den „Sozialplan Alter“ fanden sich interessierte Bürger zusammen, die beschlossen, selbst etwas zu unternehmen. Ihr Ziel war, Menschen beim Älterwerden zu begleiten, sie zu unterstützen und ihnen zu helfen, selbst aktiv zu werden.
Um die Projektidee umzusetzen, suchten die Senioren zunächst einen Träger. Der Caritasverband Rhein-Kreis Neuss e. V. übernahm die Aufgabe, einen Quartiersentwicklungsprozess zu leiten, gemeinsam mit den aktiven Bürgern und mehreren Kooperationspartnern. So konnte die Quartiersinitiative Älterwerden in Büttgen gegründet werden. Die Aktivitäten der Initiative beziehen sich auf die Erhebungsergebnisse, sind jedoch als offener Prozess angelegt, der sich aus den Wünschen, Anregungen und Interessen der Bürger speist.
In Büttgen gibt es bereits viele Angebote, die nur nicht von jedem wahrgenommen werden. Daher war einer der ersten Schritte die Vernetzung der Angebote und Dienste. Zahlreiche Kooperationspartner wurden ins Boot geholt, darunter die Stadt Kaarst, der Verein „Lebendige Nachbarn“, die Seniorenberatung des Deutschen Roten Kreuzes und die Alzheimergesellschaft Kaarst. Bei einem Kick-off-Workshop wurden Anfang 2018 Grundlagen und Ziele vereinbart. Es folgte eine offizielle Startveranstaltung für die Bürger, um herauszufinden, was diese wirklich bewegt. Um Ideen zu konkretisieren und umzusetzen, wurden themenbezogene Treffen organisiert. Aus diesen entstanden verschiedene Module. Nach und nach kamen weitere hinzu. Die Beteiligten treffen sich seitdem regelmäßig, um ihre Erfahrungen, Ideen und auch Wünsche von Teilnehmern einzubringen, und passen die Angebote an.
Als Ergebnis dieses bürgerschaftlichen Engagements finden Büttger Bürger mit Hilfebedarf und ihre Angehörigen heute konkrete Unterstützung: Die Initiative organisiert ehrenamtliche Senioren- und Pflegebegleiter, die sich um die alltägliche Versorgung kümmern, bei Behördenangelegenheiten helfen und Arztbesuche begleiten. Darüber hinaus gibt es Informationsveranstaltungen und es wurde ein Gesprächskreis für pflegende Angehörige ins Leben gerufen.
Mitte 2018 konnte die Initiative als nächsten Meilenstein das Quartierscafé „Büttger Treff“ einweihen. Es fungiert als offener Treffpunkt und sorgt mit vielfältigen Aktivitäten für die gewünschten Kontaktmöglichkeiten.
Gefördert wurde das Projekt in Trägerschaft des Caritasverbandes Rhein-Kreis Neuss über drei Jahre von der Stiftung Wohlfahrtspflege NRW, dem Diözesan-Caritasverband für das Erzbistum Köln und der Sparkassenstiftung Kaarst-Büttgen in Kooperation mit der Stadt Kaarst. Für 2021 übernimmt die Stadt Kaarst einen Großteil der Finanzierung.

15.2.5 Das Wiesbadener Modell – Sicherheit zu Hause und intelligenter Personaleinsatz

Über 300 Senioren leben in den zwei Wohngebieten Eigenheim und Komponistenviertel in Wiesbaden-Sonnenberg. Sie können bei Pflegebedarf von den Vorteilen einer besonderen Kooperation profitieren: Seit Sommer 2016 arbeiten der Pflegedienst Rehbein und die EVIM gemeinnützige Altenhilfe GmbH zusammen. Die Projektverantwortlichen betreiben mehrere Standorte im Quartier: einen Pflegestützpunkt, ein Servicewohnen für Senioren und eine stationäre Pflegeeinrichtung. Dazu kommen noch Einrichtungen der EVIM gemeinnützige Behindertenhilfe GmbH. Sie haben sich für das Projekt Wiesbadener Modell – Quartier Eigenheim/Komponistenviertel zusammengetan, um neue Wege in der ambulanten wie stationären Versorgung zu erproben. Gleichzeitig wollen sie Antworten finden, um dem Fachkräftemangel zu begegnen. Auch die soziale Teilhabe der Anwohner soll gestärkt werden.
Auslöser für die Projektidee war ein erhöhter Bedarf an ambulanter Pflege und sozialer Teilhabe im Servicewohnen und darüber hinaus. Daraufhin wurden weitere Partner an Bord geholt und eine Projektstruktur geplant. Teil des Plans war eine Befragung der Bewohner des EVIM Service-Wohnens, um die Bedürfnisse der dort lebenden Menschen zu erheben. Die Umfrageergebnisse wurden ausgewertet und auf den Bedarf zugeschnittene Maßnahmen in den Projektplan aufgenommen.
Die Hauptmaßnahmen waren das Installieren eines Quartiersbüros und eines Büros des Pflegedienstes als Anlaufstellen für die Menschen im Quartier. Zudem führten die Kooperationspartner einen Nachtdienst in den Räumlichkeiten des Altenhilfeträgers ein. Darüber hinaus wurde das Konzept des Pflegedienstes auf eine ortsnahe, rein fußläufige Versorgung umgestellt, indem das Einsatzgebiet auf das sich über einen Quadratkilometer erstreckende Quartier begrenzt wurde. So kann den Bewohnern des Quartiers eine 24-Stunden-Sicherheit in den vertrauten vier Wänden angeboten werden, ohne dass eine Betreuungspauschale anfällt. Für die Pflegekräfte bedeuten die entfallenen Fahrtwege weniger Zeitdruck – ein wesentlicher Faktor für attraktive Arbeitsbedingungen.
Die sektorenübergreifende Kooperation in Kombination mit räumlicher Nähe erweist sich als Schlüsselfaktor für Synergieeffekte und neue Möglichkeiten. Ein Beispiel dafür ist, dass die Räume der EVIM Altenhilfe für das Zusatzangebot eines täglichen gemeinsamen Frühstücks genutzt werden können. Auch kurzfristige Einsätze durch das Pflegedienst-Team sind einfacher einzurichten, wodurch sich die Klienten im Quartier sicherer fühlen.
Um die soziale Teilhabe und Integration der im Quartier lebenden Menschen weiter zu fördern, haben die Kooperationspartner in einem Bistro einen gemeinsam betriebenen, zentralen Quartierstreffpunkt eingerichtet. Regelmäßig finden im Treffpunkt vom Quartiersmanagement organisierte Veranstaltungen statt, zum Beispiel Spielenachmittage. Ausflüge starten von dort. Direkt anliegend sind das Büros des Pflegedienstes und das Quartiersbüro angesiedelt, in denen alle Bewohner Beratung zu pflegerischen und sozialen Fragen finden.
Die zwei Quartiersmanagerinnen arbeiten eng mit den lokalen, sozialen Akteuren und mit den Engagement-Lotsen der Stadt Wiesbaden zusammen. Es wird angestrebt, die Vernetzung und Kommunikation der Akteure und Einwohner auch auf technischem Wege zu erleichtern. Dazu wird unter anderem eine Software für eine Quartiersplattform entwickelt.

15.3 Fazit

Die Porträts zeigen, wie unterschiedlich die Voraussetzungen und Bedarfslagen in den Quartieren sind. Und sie zeigen, wie vielfältig Netzwerke aus Pflege, engagierten Bürgern und weiteren Partnern aussehen und arbeiten. Initiatoren und Projektträger sind längst nicht mehr nur Akteure aus der Altenpflege wie in den Anfangszeiten der Idee der Quartiersentwicklung vor etwa zehn Jahren (DStGB 2019). Heute gibt es mehr und mehr zivilgesellschaftliche Kräfte sowie Kommunen und die Unternehmen aus der Wohnungswirtschaft, die sich auf den Weg machen, um altersgerechte Dörfer, Viertel und Wohngebiete zu gestalten. Dies lässt sich auch am Bewerberkreis der bislang vier Ausschreibungsrunden für den „Pflegeinnovationspreis der Sparkassen-Finanzgruppe“ ablesen.
Die Bewerbungen zeigen zudem, wie viel fachlich und quantitativ in Bewegung ist. Das scheint generell der Fall zu sein: „Zwar lässt sich die genaue Anzahl der entstandenen Initiativen nicht quantifizieren, aber wenn man allein die Projekte betrachtet, die in den vergangenen Jahren aufgrund von Fördermaßnahmen in der Altenhilfe entstanden sind, ist es sicher nicht zu hoch gegriffen, wenn man von weit über 1.000 Quartiersprojekten ausgeht, die auf den Weg gebracht wurden. Zumal auch Ergebnisse vorliegen, die zeigen, dass Kommunen gezielt aktiv geworden sind, nach einer repräsentativen KDA-Befragung in NRW 2018 mindestens jeder fünfte Kreis beziehungsweise jede fünfte kreisfreie Stadt.“ (DStGB 2019, S. 9)
Eine weitere positive Entwicklung ist, dass neben dem Vorreiter Nordrhein-Westfalen mehr und mehr Bundesländer das Potenzial der Quartiersentwicklung erkennen und finanzielle und/oder strukturelle Förderprogramme aufsetzen, wie etwa in Baden-Württemberg (Sozialministerium Baden-Württemberg – Quartier 2030) oder Brandenburg (FAPIQ – Fachstelle Altern und Pflege im Quartier).
Auch die Stifter des Preises wollen weiterhin ihren Teil dazu beitragen, das Konzept voranzutreiben, damit mehr pflege- und hilfebedürftigen Menschen in dieser schwierigen Lebenssituation genau die Unterstützung finden, die sie brauchen. Deshalb haben sie auch die nächste Preisrunde für quartiersnahe Pflegeprojekte ausgelobt. Besonders gewürdigt wurden Projekte, die auch digitale Möglichkeiten nutzen, um mehr Teilhabe zu ermöglichen und den Zusammenhalt im Quartier zu stärken.
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Literatur
Zurück zum Zitat AGP Sozialforschung (2015) Aktivierende Bürgerbefragung in der Gemeinde Ortenberg. Zentrale Ergebnisse der Bestands- und Bedarfsanalyse im GKV-Modellprojekt „Ein Dorf hilft sich selbst“ – Wohnen und Leben im Quartier. AGP Sozialforschung, Freiburg AGP Sozialforschung (2015) Aktivierende Bürgerbefragung in der Gemeinde Ortenberg. Zentrale Ergebnisse der Bestands- und Bedarfsanalyse im GKV-Modellprojekt „Ein Dorf hilft sich selbst“ – Wohnen und Leben im Quartier. AGP Sozialforschung, Freiburg
Zurück zum Zitat DStGB (Deutscher Städte- und Gemeindebund) (2019) Dokumentation No 150. Vielfalt leben – Anregungen und Praxisbeispiele für das Älterwerden und Teilhaben im Quartier. Deutscher Städte- und Gemeindebund, Berlin DStGB (Deutscher Städte- und Gemeindebund) (2019) Dokumentation No 150. Vielfalt leben – Anregungen und Praxisbeispiele für das Älterwerden und Teilhaben im Quartier. Deutscher Städte- und Gemeindebund, Berlin
Zurück zum Zitat Forschungsgesellschaft für Gerontologie e. V. (2016) Projekt „Erstellung eines Sozialplans Alter für die Stadt Kaarst sowie Entwicklung und Erprobung von Maßnahmen und Pilotprojekten“. FFG, Dortmund Forschungsgesellschaft für Gerontologie e. V. (2016) Projekt „Erstellung eines Sozialplans Alter für die Stadt Kaarst sowie Entwicklung und Erprobung von Maßnahmen und Pilotprojekten“. FFG, Dortmund
Zurück zum Zitat Klie T et al (2006) Freiburger Memorandum. Wohngruppen – in geteilter Verantwortung. Kontaktstelle für praxisorientierte Forschung, Evangelische Fachhochschule Freiburg, Freiburg Klie T et al (2006) Freiburger Memorandum. Wohngruppen – in geteilter Verantwortung. Kontaktstelle für praxisorientierte Forschung, Evangelische Fachhochschule Freiburg, Freiburg
Zurück zum Zitat Klingenberg O (2018) Das Bielefelder Modell – Ein bewährtes Konzept für ein selbstbestimmtes Wohnen mit Versorgungssicherheit im Alter. Pro Alter 3/2018:21 Klingenberg O (2018) Das Bielefelder Modell – Ein bewährtes Konzept für ein selbstbestimmtes Wohnen mit Versorgungssicherheit im Alter. Pro Alter 3/2018:21
Zurück zum Zitat MASGF (2018) Zeit im Quartier – Gemeinsam Lebensqualität vor Ort gestalten. Land Brandenburg, Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie, Potsdam MASGF (2018) Zeit im Quartier – Gemeinsam Lebensqualität vor Ort gestalten. Land Brandenburg, Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie, Potsdam
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Ausgezeichnete Quartiersarbeit – Modelle für die Vernetzung von Pflege und bürgerschaftlichem Engagement
verfasst von
Heike Wehrbein
Melanie Hanemann
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https://doi.org/10.1007/978-3-662-63107-2_15