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Erschienen in: Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie 6/2018

Open Access 18.07.2017 | Arzneimittelsicherheit | Übersichten

Entscheidungshilfen bei komplexer Polypharmazie

Medikationsdatenbanken und Beratung durch den klinischen Apotheker

verfasst von: Dr. W. Weinrebe, R. Preda, S. Bischoff, D. Nussbickel, M. Humm, K. Jeckelmann, S. Goetz

Erschienen in: Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie | Ausgabe 6/2018

Zusammenfassung

Die Zahl älterer Menschen mit Polypharmazie (mehr als 5 gleichzeitig verabreichte Medikamente) steigt. Den größten Anteil machen Leitlinien-Medikamente, Schmerzmittel und Psychopharmaka aus, da bei geriatrischer Multimorbidität oft mehrere leitliniengerecht zu versorgende Haupterkrankungen vorliegen. Eine Polypharmazie stellt eine komplexe und schwierige Herausforderung für alle behandelnden Ärzte dar. Folgen können erhebliche Nebenwirkungen bis hin zu Intoxikationen sein, und es kann sehr schwierig werden, das verursachende Medikament zu identifizieren sowie eine sichere Apassung der Medikamentenzahl und -dosis vorzunehmen. Anhand des Falls eines Patienten mit einem medikamentös induzierten Delir arbeitet der vorliegende Beitrag diese Situation exemplarisch auf. Die Frage nach raschen Hilfen durch die Nutzung von Medikamentendatenbanken wird beleuchtet und die Bedeutung des klinischen Apothekers dargestellt. Für Ärzte wird möglicherweise in Zukunft die Arbeit mit Medikationsdatenbanken immer wichtiger und hoffentlich auch einfacher. Der dargestellte Fall zeigt aber auch, dass die effektive und begründete Reduktion von Medikamenten sehr gute Wirkung zeigen kann und möglich ist.
Der geriatrische Patient ist häufig multimorbide und wendet mehr als 5 Medikamente an. Die gleichzeitige Verabreichung dieser hohen Medikamentenzahl ist nebenwirkungs- und risikoreich. Durch Nutzung von Medikationsdatenbanken und mithilfe der Beratung durch einen klinischen Apotheker kann eine Polypharmazie evaluiert und ggf. erfolgreich umgestellt werden. Das medikamentös induzierte Delir des vorgestellten Patienten war unter der Umstellung komplett rückläufig, und sein funktioneller Abbau konnte unterbrochen werden. Die Ergebnisse der vorgestellten Evaluation können für jeden praktisch tätigen Geriater von großem Nutzen sein.

Klinischer Fall

Vorgeschichte

Der 77-jährige Herr B. wird akut wegen unklarer Wesensveränderungen und Verwirrtheit eingewiesen, nachdem er vor 10 Tagen im häuslichen Umfeld gestürzt war. Beim Sturz waren keine Verletzungen und keine Bewusstlosigkeit aufgetreten, die Mobilität und Kognition des Patienten hatten sich aber deutlich verschlechtert. Die Angehörigen erzählen, dass er nun Dinge tue, die er nie zuvor getan habe. So wollte er den Fernseher in eine Zeitung einpacken und nutzte eine Zigarettenschachtel als Handy. Aktuell bestehen nach dem Sturz Schmerzen an der linken Brust und am Knie. Noch 2 Wochen zuvor war der Patient vollkommen selbstständig, war regelmäßig mit dem Auto zum Einkaufen gefahren und hatte keinerlei fremde Hilfen benötigt.

Anamnese

Herr B. ist als Schmerzpatient gut bekannt. Seit Jahren ist er immer wieder wegen akuten Schmerzschüben bei protrahiert verlaufenden Gichtarthropathien in der Klinik. Es liegt eine chronische Mastoiditis vor, die bereits 3‑mal operativ versorgt werden musste. Weiterhin sind multiple Gelenke immer wieder entzündlich verändert; so bestehen eine rechtsseitige Omarthritis, eine Arthritis des linken Handgelenks, eine Arthritis beider Sprunggelenke und eine Vorfußarthritis. Der letzte Gichtanfall fand vor über 2 Jahren statt. Anamnestisch ergibt sich ein chronischer, kontrollierter Alkoholgenuss (mehrere Flaschen Bier/Tag). Seit über 3 Wochen habe der Patient keinen Alkohol mehr getrunken.

Klinische und bildgebende Untersuchungen

Folgende Untersuchungen erbringen die aufgeführten Befunde:
  • Thoraxröntgen (RöTx): keine Stauung, alte Frakturen der 8. und 9. rechtsseitigen Rippenknochen, kleiner rechtsseitiger Pleuraerguss;
  • Elektrokardiographie (EKG): inkompletter Linksschenkelblock (LSB), Normofrequenz (NF), Sinusrhythmus , intermittierender Rechtsschenkelblock, anterolaterale Erregungsrückbildungsstörungen;
  • Sonographie: rechtsseitiger, geringer Pleuraerguss;
  • kraniale Computertomographie (CCT): kein Nachweis einer intrazerebralen Blutung, V. a. subkortikale arteriosklerotische Enzephalopathie (SAE);
  • Magnetresonanztomographie (MRT): Ausschluss einer akuten Wernicke-Enzephalopathie, keine frischen Diffusionsstörungen, keine SAE, keine Gliosen; insgesamt unauffällig;
  • Clinical Opiate Withdrawal Scale (COWS): negativ [1].
In der klinischen Untersuchung finden sich keine Erhöhung der Körpertemperatur; die Vitalparameter sind unauffällig. Die kardiologische Untersuchung ergibt Zeichen einer leichten Stauung und geringgradiger peripherer Ödemen. Der pulmologische Status ist unauffällig, kein Infektfokus, keine Dehydratation. Neurologisch fällt eine Transfer- und Lokomotionseinschränkung ohne Seitenbetonung auf. Der Patient ist nicht allein gehfähig, hat Schmerzen im rechten Knie und ist ansonsten schmerzarm.

Geriatrische Untersuchung

Die Vorstellung des Patienten beim Geriater wegen Verwirrtheit erfolgt nach 5‑tägiger Akutbehandlung. Im Geriatrisches Aufnahmeassessment werden die in Tab. 1 zusammengefassten Befunde erhoben.
Tab. 1
Geriatrisches Aufnahmeassessment
Instrument
Durchführbarkeit/Befund
Mini-Mental-Status-Test (MMST, [2])
Nicht möglich
Geriatric Depression Screening Scale (GDS, [3])
Nicht möglich
DemTect [4]
Nicht möglich
Clock Test [5]
Nicht möglich
Barthel-Index (Punkte, [6])
10
Timed „up & go“ Test [7]
Nicht möglich
Tinetti-Test [8]
Nicht möglich
Esslinger Transferskala (Punkte, [9])
4
10-m-Gehtest (s, [10])
0
Confusion Assessment Method
– Score [11]
Positiv
– Severity [12]
Schwer
Delirtyp [13]
Hypermotorisch, optische Halluzinationen, starke Unruhe

Psychiatrische Anamnese

Der Patient teilt mit, er habe nachts schlechter schlafen können, hätte zusätzliche Medikamente (Schlafmedikamente) genommen. Alkohol habe er nicht mehr getrunken; er habe ihm nicht mehr geschmeckt. Im Kontakt ist er freundlich, aber kritisch, abwartend. Er ist desorientiert, immer wieder unruhig, agitiert, ängstlich, dann wieder läppisch. Er lacht über seine hilflose Situation; gleichzeitig ist er verärgert darüber. Er weiß nicht, wo er ist, welche Zeit es ist, und weist deutliche Erinnerungslücken über die kürzere Vergangenheit auf. Er fühlt sich beobachtet, die „Fernseher können Kameras sein, Fenster können Augen haben, es könnten Mikrophone hier sein“, schaut sich immer wieder im Zimmer um, wirkt fahrig, hat optische Halluzinationen (sieht Feuer). Spontan malt er ein Bild auf ein vorgelegtes Blatt, sieht darin „Haus im Feuer, Flammen, Bedrohliches“ und „Vögel, die flüchten vor dem Bösen“ (Abb. 1).

Klinisch-geriatrische Arbeitshypothesen

Nach der Zusammenschau der oben aufgeführten Befunde werden die folgenden klinisch-geriatrischen Arbeitshypothesen aufgestellt:
  • Rechtsherzbelastungszeichen bei Grenzkompensation,
  • medikamentös induziertes, hypermotorisches Delir; Differenzialdiagnose: akute polymorphe psychotische Störung ohne Symptome einer Schizophrenie.

Zu prüfende Ausgangsmedikation und Anpassung

Evaluation und pharmakologische Beratung.
Wegen der akut aufgetretenen, deliranten Symptomatik entscheiden sich die behandelnden Ärzte für die dringliche Evaluation der Ausgangsmedikation (Tab. 2). Parallel erfolgen eine pharmakologische Beratung durch den klinischen Apotheker und Abfragen von Medizindatenbanken. Bei der Auswahl der Datenbank werden die Kriterien Verfügbarkeit und Bekanntheit gewählt, denn die Entscheidung zur Medikamentenumstellung soll mit möglichst hoher Qualität innerhalb 24 h erfolgen können. Ein sofortiger Testzugang wird für folgende Datenbanken erhalten (Tab. 3): ABDA-Datenbank [14], MediQ-Datenbank [15] und ApoThesen-Datenbank [16].
Tab. 2
Medikation bei Aufnahme
 
Morgens
Mittags
Abends
Nachts
Bisoprolol corax 5mg
1
0
0
0
Colchicum-Dispert® 1mg
1
0
1
0
L-Thyroxin 100 μg
1
0
0
0
Allopurinol 100 mg
0
0
1
0
Metformin 500 mg
1
0
1
0
Paracetamol 1000 mg
0
1
1
0
Ramipril 5 mg
1
0
0
0
Amitriptylin 25 mg
0
0
1
0
Lorazepam 1 mg
0
0
0
1
Tilidin-N dura® 50 mg/4 mg
1
0
0
1
Venlafaxin 75 mg
1
0
0
0
Gabapentin 300 mg
1
1
1
0
Omeprazol 20 mg
1
0
0
0
Tab. 3
Ergebnisse der Beratung durch den klinischen Apotheker und der Datenbankabfragen bei ABDA, MediQ und ApoThesen
 
Ergebnis
Empfehlung
Dauer
Pharmazeutische Visite
1 Seite
Kategorie major (sollte nach Möglichkeit vermieden werden): Amitriptylin ↔ Venlafaxin (Serotoninsyndrom, Verwirrtheit, Halluzinationen)
Kategorie moderat (nur unter speziellen Umständen verwenden, Therapie überwachen): Folgende Arzneimittelkombinationen begünstigen Nebenwirkungen wie Verwirrtheit, Schwindel, Benommenheit, Konzentrationsprobleme, Beeinträchtigung des Urteilsvermögens und der motorischen Koordination, insbesondere bei älteren Patienten:
Amitriptylin↔ Lorazepam
Amitriptylin↔ Gabapentin
Venlafaxin ↔ Gabapentin
Lorazepam ↔ Venlafaxin
Für Tilidin waren in der Datenbank keine Ergebnisse abrufbar. Aber in Kombination mit den in Tab. 2 gelisteten Wirkstoffen sind vergleichbare mögliche Nebenwirkungen zu erwarten
Detailliert und patientenbezogen, klar und direkt umsetzbar
10 min, Dauer eines Telefonats oder eines Fachgesprächs
ABDA-Datenbank
39 Seiten
Sehr umfassend, sehr detailliert, nicht fokussiert, nicht direkt ablesbar. Es existieren mindestens 5 Substanzen, die sowohl Verwirrtheitszustände als auch Unruhe und Halluzinationen erzeugen können; diese sind Amitriptylin, insbesondere im Zusammenhang SSRI, Lorazepam, Tilidin, Omeprazol und Venlafaxin
Keine Empfehlung
Entscheidung muss aus vielen Informationen aggregiert werden
55 min mit externer Hilfe
Erfahrung im Umgang mit der ABDA-Datenbank erforderlich
Sehr aufwendig
MediQ-Datenbank
28 Seiten
Multiple Charts und Prosa
Abbildung von Interaktionen zwischen Amitriptylin, Lorazepam, Venlafaxin, Tilidin, Gabapentin und Omeprazol
Keine Empfehlungen
Entscheidungen können aber direkt abgelesen werden
10 min
Schnell einzugeben, gut bedienbar
ApoThesen Datenbank
4 Seiten
Charts mit einer detaillierten Auflistung der Summe der UAW für Verwirrtheit, Halluzination, Angst und Delir mit den dazugehörigen Medikamenten
Hierarchisierung von Amitriptylin, Lorazepam und Venlafaxin, gefolgt von Tilidin, Gabapentin und Omeprazol
Detaillierte Auflistung der Nebenwirkungen (Tachykardie, orthostatische Problematik und Rhythmusstörungen) für Amitriptylin und Venlafaxin
Keine Empfehlungen
Entscheidungen können aber direkt abgelesen werden
Nach Schwerpunktthemen gegliedert, klar strukturiert
Risiken werden optisch ablesbar dargestellt
10 min
Etwas umständliche Medikamenteneingabe
Sehr viele verschiedene Auswertungsmöglichkeiten
SSRI „selective serotonin reuptake inhibitor“, UAW unerwünschte Arzneimittelwirkung
Ergebnis.
Folgende gleichzeitige Medikamentenanwendung erweist sich als problematisch:
  • Amitriptylin 25 mg,
  • Lorazepam 1 mg,
  • Tilidin-N dura® 50 mg/4 mg,
  • Venlafaxin 75 mg,
  • Gabapentin 300 mg,
  • Omeprazol 20 mg.
Entscheidung.
Diese Medikation muss in ihrer Indikation überprüft und ggf. reduziert bzw. abgesetzt werden.
Prozedere.
Die möglicherweise delirauslösende oder -verstärkende Medikation wird in 3 Schritten abgesetzt. Die hierarchische Reduktion beginnt bei Amitriptylin, Lorazepam, gefolgt von Venlafaxin und Tilidin nach weiteren 2 Tagen. Die Notwendigkeit sowie Reduktion von Gabapentin und Omeprazol werden nach weiteren 2 Tagen geprüft.

Klinischer Verlauf

Während bei Aufnahme des Patienten wegen des Delirs keine Testung möglich ist, kann nach dem Absetzen von Amitriptylin und Lorazepam eine deutliche Zustandsverbesserung festgestellt werden. Der Patient ist teilweise testbar, zeigt aber noch delirante Symptome und erhebliche Defizite (Tab. 4). Nach Absetzen von Venlafaxin und Tilidin ist das Delir nahezu komplett verschwunden. Gabapentin und Omeprazol werden nach Empfehlung und bei fehlender Indikation nach weiteren 2 Tagen abgesetzt. Der Patient ist jetzt deutlich autonomer, aber noch abhängig. Er kann noch nicht gut laufen und ist unsicher. Die psychotischen Symptome sind nach der Medikamentenreduktion ebenfalls komplett regredient; eine antipsychotische Medikation ist nicht nötig. Damit entfällt die Differenzialdiagnose der akuten polymorphen psychotischen Störung ohne Symptome einer Schizophrenie.
Tab. 4
Laborbestimmungen, Geriatrisches Assessment, Intervention der Medikationsänderung und klinischer Verlauf
 
Tag 1
Tag 5
Tage 7
Tag 9
Tag 17
Tag 120
 
Aufnahme auf die Station für innere Medizin
Frührehabilitation
Tag 1
Frührehabilitation
Tag 3
Frührehabilitation
Tag 5
Frührehabilitation
Tag 14
Nach 3 Monaten
Laborbestimmungen
Natrium (mmol/l)
131
136
143
Kalium (mmol/l)
3,4
3,2
3,6
Kreatinin (mg/dl)
0,9
0,9
0,9
Hämoglobin (g/dl)
11,8
11,6
9,8
C-reaktives Protein (mg/dl)
1,7
0,6
1,7
Glutamat-Oxalacetat-Transaminase (U/l)
98
63
28
Glutamat-Pyruvat-Transaminase (U/l)
102
106
30
Quick-Wert (%)
43
88
90
Medikationsänderung
Amitriptylin 25 mg
>
Lorazepam 1 mg
>
Tilidin-N dura® 50 mg/4 mg
>
Venlafaxin 75 mg
>
Gabapentin 300 mg
>
Omeprazol 20 mg
>
Geriatrisches Assessment
Mini-Mental-Status-Test (Punkte, [2])
Nicht möglich
17
21
22
Geriatric Depression Screening Scale (Punkte, [3])
Nicht möglich
6
4
DemTect (Punkte, [4])
Nicht möglich
6
9
Clock Test (Punkte, [5])
Nicht möglich
4
0
0
Barthel-Index (Punkte, [6])
10
15
45
70
Timed „up & go“ Test (s, [7])
Nicht möglich
>30 (mit Hilfsmittel und Therapeut)
>30 (mit Hilfsmittel)
24
Allein, frei
Tinetti-Test (Punkte, [8])
Nicht möglich
8
14
18
Esslinger Transferskala (Punkte, [9])
4
3
2
1
10-m-Gehtest (m)
0
5–10
35
>500
Confusion Assessment Method
– Score [11]
Positiv
Positiv
Subsyndromal
Negativ
Negativ
– Severity [12]
Schwer
Mittel
Delirtyp
Hypermotorisch, optische Halluzinationen, starke Unruhe
Hyper- und hypomotorisch, psychotische Anteile, fühlt sich beobachtet (Kameras und Augen)
Einzelne Kriterien des Delirs noch vorhanden
Keine Halluzinationen Keine psychotischen Anteile mehr
Noch verlangsamt
Kein Delir mehr
Kein Delir, kognitiv deutlich besser leistungsfähig
Herr B. wird 3 Monate nach dem Krankenhausaufenthalt zu Hause aufgesucht und nachuntersucht. Er ist wieder komplett mobil und selbstständig und zeigt keine Anzeichen eines Delirs. Auch fremdanamnestisch ist keine akute Verwirrtheit mehr feststellbar. Testpsychologisch bestehen Defizite, die als leichtgradig einzustufen sind. Die abgesetzten Medikamente hat er nicht mehr erhalten. Der Grund dafür ist möglicherweise die ausführliche Information der Angehörigen (Ehefrau, Tochter und Sohn) und auch des Hausarztes bezüglich der wahrscheinlichen Interaktion der vorbestehenden Medikation, die den Verwirrtheitszustand ausgelöst hatte.

Diskussion

Polypharmazie beginnt bei mehr als 5 gleichzeitigen Medikamenten [17] – im vorliegenden Fall wurden 13 Medikamente in der Ausgangssituation angewendet. Eine solch komplexe Polymedikation stellt bei älteren Patienten in der klinischen Akutversorgung eine häufige Situation dar [18]. Grund für eine solch umfassende Medikationen ist die Vorgabe von Medikationen aus Leitlinienempfehlungen z. B. bei Herzinsuffizienz, Diabetes usw. Das führt bei Patienten mit mehr als 3 leitliniengerecht zu versorgenden Grunderkrankungen rasch zur Verabreichung von mehr als 5 Medikamenten. Dies gilt umso mehr, da viele der den Leitlinien zugrunde liegenden Studien mit jüngeren Patienten durchgeführt wurden, und der behandelnde Arzt von daher auch eine zusätzliche Anpassung der Medikation an den Bedarf des älteren Menschen bedenken müsste. Darüber hinaus sollte immer die Indikation für jedes Medikament geprüft werden. Nebenwirkungsprofile und Interaktionen sind umfangreich und können rasch unübersichtlich werden. Sekundärkomplikationen [19] können Vigilanzstörungen, Delirien, serotonerge Syndrome, aber auch funktionelle Einbußen mit Lokomotions- und Autonomieeinschränkungen sowie Stürzen sein. Eine wachsende Zahl an wissenschaftlichen Arbeiten hat den Zusammenhang von Notfalleinweisungen mit Polypharmazie bei hochbetagten Menschen untersucht. Sie zeigen, dass das Thema europaweit und international relevant ist (Frankreich [20], Indien [21], Schweden/Niederlande [22], Irland [23]) und eine echte Herausforderung darstellt.
Für die behandelnden Ärzte ist es in der klinischen Situation und unter dem bestehenden Zeitdruck sehr schwierig, eine rasche, effektive und richtige Entscheidung zu treffen. Die Priscus-Liste und die Beers Criteria Medication List [24, 25] sind Beispiele für eine Arzneibewertung bei älteren Menschen. Sie zeigen Alternativen zu kritischen Medikationen auf. Die „Anticholinergic Cognitive Burden Scale“ bietet Möglichkeit, das Risiko der anticholinergen Last besser einzuschätzen [26]. Jeder Anticholinergic Burden (ACB) Score >4 reduziert die Lebenserwartung des Betroffenen um 20 %. So ist z. B. auch das dem vorgestellten Patienten verabreichte Colchicum-Dispert® (Kolchizin) mit einer ACB-Last von 3 Punkten versehen, löste aber nach Absetzen der anderen Medikamente, die 9 Punkte im ACB Score belegten, kein Delir mehr aus [27]. Im vorliegenden Fall wurden Arzneimitteldatenbanken hinzugezogen, da die Medikation sehr umfangreich war und eine dringliche klinische Entscheidung anstand. Zusätzlich wurde eine Fallbesprechung mit einem klinischen Apotheker durchgeführt, um die Ergebnisse der Datenbankrecherchen zur Ausgangsmedikation zu kontrollieren und zu bewerten.
Das fallbezogene Fachgespräch mit dem klinischen Apotheker ist sicher der Goldstandard. Der behandelnde Arzt erhält direkt Informationen und Anregungen und kann auf den einzelnen Patienten bezogene Fragen stellen. Allerdings ist es in den Kliniken aus organisatorischen oder zeitlichen Gründen nicht möglich, ein patientenbezogenes Fachgespräch für jeden der Patienten durchzuführen, der eine komplexe Medikation erhält.
Es zeigte sich, dass Datenbanken möglicherweise wiederum komplexe Informationen erteilen und nicht immer hilfreich sind. Die getestete ABDA-Datenbank liefert sehr detaillierte Informationen, die im klinischen Alltag aber aufgrund des Umfangs (38 Seiten) und der Dauer der Erstellung (fast eine Stunde) praktisch nicht verwend- und umsetzbar sind. Die MediQ-Datenbank der Schweiz ist sehr gut zu bedienen und sehr schnell. Sie zeigt rasch Interaktionen auf. Allerdings ist auch hier das Datenmaterial im klinischen Alltag nicht zu bewältigen (28 Seiten). Die getestete ApoThesen-Datenbank, die sich auf geriatrische Patienten spezialisiert hat, arbeitet sehr schnell, lässt sich relativ einfach bedienen und präsentiert je nach Fragestellungen „in time“ verschiedene Module, die einen guten Überblick über die Summationen von Nebenwirkungen geben. Die medizinische Entscheidung über mögliche Konsequenzen ist hier rasch und einfach möglich.
Die aus dem Fachgespräch und der Nutzung der Datenbanken abgeleiteten Entscheidungen zur Medikation des vorgestellten Patienten waren richtig. Es konnte mit einer professionellen Medikationsreduktion klinisch die Rückbildung des Delirs gezeigt werden. Der Patient hatte nach 5 Tagen das Delir überwunden. Er wurde nach 3 Monaten in der häuslichen Umgebung nachuntersucht und war bis auf leichte kognitive Defizite komplett autonom und mobil.
Datenbanken könnten in der Zukunft auch in der Klinik und der Akutversorgung effektiv helfen, rasch eine Orientierung über Handlungsmöglichkeiten zu erhalten und Entscheidungen in komplexen Situationen zu treffen, v. a. wenn kein klinischer Apotheker verfügbar ist.

Fazit für die Praxis

Polypharmazie bei geriatrischen Patienten ist in der täglichen fachärztlichen Praxis, in Notaufnahmen und in der klinischen Behandlung erlebte Realität. Die Komplexität der Interaktionen übersteigt rasch auch profundes fachärztliches Wissen. Da nicht immer ein klinischer Pharmakologe zur Hand sein wird, könnten anwendungsfreundliche, medizinische Datenbanken für Ärzte eine interessante und rasche Hilfe in der Versorgung dieser Patienten darstellen.

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt

W. Weinrebe, R. Preda, S. Bischoff, D. Nussbickel, M. Humm, K. Jeckelmann und S. Goetz geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Dieser Beitrag beinhaltet keine von den Autoren durchgeführten Studien an Menschen oder Tieren. Alle Patienten, die über Bildmaterial oder anderweitige Angaben innerhalb des Manuskripts zu identifizieren sind, haben hierzu ihre schriftliche Einwilligung gegeben. Im Fall von nichtmündigen Patienten liegt die Einwilligung eines Erziehungsberechtigten oder des gesetzlich bestellten Betreuers vor.
Open Access. Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz (http://​creativecommons.​org/​licenses/​by/​4.​0/​deed.​de) veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.

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Literatur
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Metadaten
Titel
Entscheidungshilfen bei komplexer Polypharmazie
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Dr. W. Weinrebe
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S. Bischoff
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S. Goetz
Publikationsdatum
18.07.2017
Verlag
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Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie / Ausgabe 6/2018
Print ISSN: 0948-6704
Elektronische ISSN: 1435-1269
DOI
https://doi.org/10.1007/s00391-017-1285-4

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Antivirale Therapien in der Frühphase einer SARS-CoV-2-Infektion erfolgreich

Die Therapieempfehlungen machen deutlich, dass das Abwenden eines schweren Verlaufs einer COVID-19-Infektion bereits in der Frühphase der Erkrankung stattfinden sollte [1].

Webinar – Umgang mit COVID-19 in der Langzeitpflege

Ende 2023 fand das Webinar  „Umgang mit COVID-19 in der Langzeitpflege – Gut vorbereitet für Herbst/Winter und der Einsatz von Telemedizin“ statt. Sehen Sie sich das Webinar an und erfahren Sie von Pflegeexpertin Sabine Hindrichs, wie Sie Risikoeinschätzung, Symptomerkennung und lösungsorientiertes Handeln entlang des Pflegeprozesses im Umgang mit COVID-19 meistern können.

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COVID-19 in der Langzeitpflege

Erfahren Sie mehr darüber, wie Sie als Pflegekraft den Herausforderungen im Arbeitsalltag hinsichtlich Covid-19 begegnen können. Das Angebot bietet praktische Tipps, Hintergrundinformationen und aktuelle Informationen zum Thema.