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Open Access 2021 | OriginalPaper | Buchkapitel

17. AMNOG: Ziel, Funktionsweise und Ergebnisse

verfasst von : Dr. Daniel Erdmann, Dr. Wiebke Wittmüß, Jörn Schleeff

Erschienen in: Arzneimittel-Kompass 2021

Verlag: Springer Berlin Heidelberg

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Zusammenfassung

Zusammenfassung

Seit nunmehr zehn Jahren werden neu eingeführte Arzneimittel in Deutschland auf ihren Zusatznutzen untersucht und Preise auf Basis dieser Bewertung vereinbart. Der Artikel fasst zunächst die veröffentlichten Nutzenbewertungen des G-BA zusammen und analysiert diese auf Ebene der Therapiegebiete. Hierbei wird ein verstärktes Augenmerk auf die regulativ bedingte Sonderrolle von Orphan Drugs gelegt. Im zweiten Teil werden die Verhandlungsergebnisse und der zu beobachtende starke Ausgabenanstieg neuer patentgeschützter Arzneimittel betrachtet. Der Artikel schließt mit einer Betrachtung zum AMNOG als weiterhin lernendes System.
Zusammenfassung
Seit nunmehr zehn Jahren werden neu eingeführte Arzneimittel in Deutschland auf ihren Zusatznutzen untersucht und Preise auf Basis dieser Bewertung vereinbart. Der Artikel fasst zunächst die veröffentlichten Nutzenbewertungen des G-BA zusammen und analysiert diese auf Ebene der Therapiegebiete. Hierbei wird ein verstärktes Augenmerk auf die regulativ bedingte Sonderrolle von Orphan Drugs gelegt. Im zweiten Teil werden die Verhandlungsergebnisse und der zu beobachtende starke Ausgabenanstieg neuer patentgeschützter Arzneimittel betrachtet. Der Artikel schließt mit einer Betrachtung zum AMNOG als weiterhin lernendes System.

17.1 Bewertung des Zusatznutzens

Im Zentrum des Arzneimittelmarktneuordnungsgesetzes (AMNOG) steht die Sicherstellung einer zweckmäßigen, qualitativ hochwertigen und wirtschaftlichen Arzneimittelversorgung. Das Gesetz verpflichtet pharmazeutische Unternehmer, für jedes ab dem 1. Januar 2011 in den deutschen Markt eingeführte erstattungsfähige Arzneimittel mit einem neuen Wirkstoff den Zusatznutzen gegenüber einer zweckmäßigen Vergleichstherapie nachzuweisen (§ 35a SGB V). Auf Basis des Beschlusses des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) über die Nutzenbewertung verhandeln der GKV-Spitzenverband (GKV-SV) und der pharmazeutische Unternehmer für das Arzneimittel einen neuen Abgabepreis, den sog. Erstattungsbetrag (§ 130b SGB V), es sei denn, der G-BA hat das Arzneimittel direkt einer Festbetragsgruppe zugeordnet. Im ersten Jahr der Vermarktung darf der pharmazeutische Unternehmer den Preis für das Arzneimittel frei bestimmen. Ab dem zweiten Vertriebsjahr gilt dann der Erstattungsbetrag als höchstmöglicher Abgabepreis des pharmazeutischen Unternehmers.
Die Zusatznutzenbewertung wird spätestens sechs Monate nach Markteintritt des Arzneimittels mit dem Beschluss des G-BA abgeschlossen und veröffentlicht. Der G-BA trifft darin sowohl eine Aussage über die Wahrscheinlichkeit als auch über das Ausmaß des Zusatznutzens. In 60 % der 295 bis zum 1. März 2021 im Rahmen des § 35a SGB V bewerteten Arzneimittel (exkl. Festbetrags-Schnelleingruppierungen) hat der G-BA einen Zusatznutzen feststellen können, davon in gut 53 % der Fälle sogar in allen Patientengruppen des jeweiligen G-BA-Beschlusses. Die Ergebnisse der Bewertungen des G-BA nach Ausmaß und Wahrscheinlichkeit auf der Ebene der durch den G-BA vorgegebenen Patientengruppen sind in Abb. 17.1, getrennt nach Arzneimitteln zur Behandlung seltener Krankheiten (sog. Orphan Drugs) und allen anderen Arzneimitteln (hier als „Nicht-Orphan-Arzneimittel“ bezeichnet), dargestellt.
Die 295 durch den G-BA untersuchten Arzneimittel werden in insgesamt 879 Patientengruppen eingesetzt. Einen echten Beleg für einen Zusatznutzen konnte der G-BA bei Nicht-Orphan-Arzneimitteln bis zum Stichtag 1. März 2021 nur für 9 von 720 Patientengruppen (ca. 1 %) ableiten. Bei allen anderen Patientengruppen war der attestierte Zusatznutzen nicht eindeutig belegt und mit Unsicherheit behaftet. Bei knapp 95 % aller bewerteten Patientengruppen von Nicht-Orphan-Arzneimitteln war es dem G-BA möglich, eine Quantifizierung des Zusatznutzens vorzunehmen (erheblicher, beträchtlicher, geringer oder nicht belegter Zusatznutzen). Bei den Orphan-Arzneimitteln bescheinigte der G-BA für 55 % aller Patientengruppen einen „nicht quantifizierbaren Zusatznutzen“. Hierbei handelt es sich u. a. auch um Arzneimittel mit fehlenden oder extrem unsicheren Nachweisen aufgrund der gesetzlichen Verpflichtung, bei Orphan Drugs einen Zusatznutzen auszusprechen. Orphan-Arzneimittel, welche im Laufe eines Jahres mehr als 50 Mio. € innerhalb der GKV umsetzen, durchlaufen eine reguläre Vollbewertung, an deren Ende auch der Beschluss stehen kann, dass der Wirkstoff für bestimmte oder sogar für alle Patientengruppen keinen Zusatznutzen aufweist.1 Da zunehmend Orphan Drugs den Schwellenwert von 50 Mio. € übersteigen, liegt der Anteil der Patientengruppen von Orphan Drugs, für die kein Zusatznutzen feststellbar ist, bei mittlerweile 17 %. Somit weisen Orphan Drugs für knapp 72 % aller bewerteten Patientengruppen entweder keinen Zusatznutzen oder einen nicht quantifizierbaren Zusatznutzen auf, was die Problematik der gesetzlichen Sonderstellung von Orphan-Arzneimitteln aufzeigt.
Für Orphan-Arzneimittel reichen die Daten der Zulassung somit regelmäßig nicht aus, um ihren patientenrelevanten Zusatznutzen in der G-BA-Nutzenbewertung zu beurteilen. Daher ist es sinnvoll, auch nach der Zulassung für diese Arzneimittel weitere Evidenz zu Behandlungsergebnissen und Nebenwirkungen aufzubauen. Solange pharmazeutische Unternehmer derartige Belege nicht vorlegen können, sollte sich die fortbestehende Unsicherheit auch in entsprechend niedrigeren Preisen niederschlagen.
Zur Entwicklung der G-BA-Beschlusszahlen in den ersten zehn Jahren AMNOG
17.2 stellt die Anzahl der G-BA-Beschlüsse und deren jeweilige Verfahrensgrundlage für die Jahre 2011 bis 2020 dar.
Insgesamt lässt sich weiterhin ein ansteigender Trend bei der Gesamtzahl der durch den G-BA veröffentlichten Nutzenbeschlüsse feststellen. So nahm die Zahl der Bewertungen zwischen 2011 und 2019 (mit Ausnahme des Jahres 2017) von Jahr zu Jahr zu und auch im Jahr 2020 wurde die bisherige Höchstmarke an Beschlüssen aus dem Jahr 2019 nur knapp verfehlt.
Mit knapp 56 % aller jemals durchgeführten Bewertungen ist die Gruppe der erstmals bewerteten Wirkstoffe weiterhin am bedeutsamsten. Absolut betrachtet kam es im Jahr 2020 allerdings mit „nur“ 26 entsprechenden Bewertungen zu einer deutlichen Reduktion im Vergleich zum Vorjahr mit dem bisherigen Allzeithoch von 41 Beschlüssen zu Erstbewertungen. Merklich an Bedeutung hinzugewonnen hat hingegen die Bewertung weiterer neuer Anwendungsgebiete. Die entsprechende Zahl wuchs von gerade einmal vier Bewertungen im Jahr 2013 nahezu stetig bis auf 36 im Jahr 2020 an. Somit lagen im Jahr 2020 zum ersten Mal mehr Bewertungen zu neuen Anwendungsgebieten von AMNOG-Arzneimitteln vor als zu erstmals bewerteten Arzneimitteln. Ebenfalls deutlich an Bedeutung hinzugewonnen hat die Vollbewertung von Orphan-Arzneimitteln, die zunächst unter der gesetzlichen (Zusatz-)Nutzenfiktion nur eingeschränkt bewertet worden sind (insgesamt 25). Der Großteil der entsprechenden Bewertungen (20) wurde dabei für Orphan-Arzneimittel durchgeführt, die innerhalb eines Jahres GKV-Umsätze von mehr als 50 Mio. € erzielten. Allein 13 entsprechende Vollbewertungen nach Überschreiten der 50 Mio. €-Grenze fanden dabei im Jahr 2020 statt. Immerhin fünf Vollbewertungen ehemaliger Orphan-Arzneimittel wurden zwischen 2011 und 2020 notwendig, nachdem der Orphan-Drug-Status seitens der europäischen Zulassungsbehörde aufgehoben wurde (davon ein Fall im Jahr 2020). Im Trend ebenfalls ansteigend sind Nutzenbewertungen infolge des Ablaufs einer durch den G-BA beauflagten Befristung eines Vorgängerbeschlusses. Derartige Befristungen werden regelmäßig seitens des G-BA ausgesprochen, wenn noch wichtige zusätzliche Evidenz benötigt wird, um bestehende Zusatznutzenunsicherheiten zu beseitigen. Zu guter Letzt erfolgten in den betrachteten zehn Jahren 22 Bewertungen aufgrund des Vorliegens neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse. Damit stellt diese Kategorie mit einem Anteil von etwa 4 % die kleinste der aufgeführten Kategorien dar. Die meisten dieser Verfahren wurden dabei von pharmazeutischen Unternehmern angestrengt (16), die übrigen durch den G-BA (6). 2019 war dabei mit acht Bewertungen bislang das Jahr mit den meisten entsprechenden Verfahren. Diese wurden jeweils zur Hälfte durch pharmazeutische Unternehmen (4) sowie durch den G-BA (4) initiiert.
Therapiegebietsspezifische Analyse der G-BA-Bewertungen
Die folgende Abb. 17.3 stellt die Verteilung der 295 durch den G-BA zum Stand 1. März 2021 bewerteten Arzneimittel auf einzelne Therapiegebiete dar und verdeutlicht zudem, wie viele Wirkstoffe je Therapiegebiet in allen bewerteten Patientengruppen einen Zusatznutzen aufweisen (1. Wert innerhalb des Tortendiagramms), bei wie vielen Wirkstoffen je Therapiegebiet zumindest teilweise (2. Wert) und für wie viele Wirkstoffe im jeweiligen Therapiegebiet kein Zusatznutzen festgestellt werden konnte (3. Wert).
Die Abbildung verdeutlicht, dass Onkologika mit knapp einem Drittel aller bewerteten Wirkstoffe das größte Therapiegebiet darstellen. Auffällig ist zudem, dass 37 der analysierten 90 Onkologika (= 41 %) für alle bewerteten Patientengruppen einen Zusatznutzen durch den G-BA anerkannt bekommen haben. Kein anderes Therapiegebiet weist einen höheren Anteil an Wirkstoffen mit 100 % Zusatznutzen auf.
Dies liegt u. a. auch daran, dass der Anteil der Orphan Drugs unter den Krebs-Arzneimitteln mit 38 % besonders hoch ausfällt und diese Arzneimittel qua Gesetz einen Zusatznutzen zugesprochen bekommen.
Am zweithäufigsten wurden bislang Wirkstoffe aus dem Therapiegebiet „Stoffwechselkrankheiten“ bewertet. Zu diesem Therapiegebiet zählen neben Volkskrankheiten wie Diabetes mellitus auch seltene, erblich bedingte Erkrankungen, wie z. B. Mukoviszidose. Auch in diesem Therapiegebiet liegt für 21 von 53 Wirkstoffen in allen Patientengruppen ein Zusatznutzen vor. Dies sind – abgesehen von einer Ausnahme – durchgängig Orphan Drugs, die bereits qua Gesetz für das komplette Anwendungsgebiet einen Zusatznutzen zugesprochen bekommen. Das drittgrößte Therapiegebiet unter den AMNOG-Arzneimitteln sind „Infektionskrankheiten“. Hierunter fallen insbesondere Arzneimittel, die gegen eine Form der Hepatitis wirken (14) und Arzneimittel zur Behandlung einer HIV-Infektion (16). Unter den übrigen Therapiegebieten fällt auf, dass bei den „Augenerkrankungen“, den „Krankheiten des Blutes und der blutbildenden Organe“ sowie in der Gruppe der „anderen Therapiegebiete“ mehr Wirkstoffe keinen Zusatznutzen aufweisen, als es Wirkstoffe mit einem (mindestens für eine Patientengruppe festgestellten) Zusatznutzen gibt. In den übrigen vier Therapiegebieten weisen hingegen mehr Wirkstoffe (zumindest teilweise) einen Zusatznutzen auf, als es Wirkstoffe ohne Zusatznutzen gibt.

17.2 Erstattungsbetrag: Der zusatznutzenorientierte Preis

17.4 enthält eine Übersicht zu den Arzneimitteln mit Erstattungsbetrag, aufgeteilt nach den Ergebnissen der Zusatznutzenbewertung. Demnach weisen zum Stichtag 1. März 2021 bereits 265 Wirkstoffe einen Erstattungsbetrag auf. Die Differenz zu den jemals im G-BA bewerteten Arzneimitteln ergibt sich dabei aus den noch laufenden Verhandlungen und der Zahl an Marktaustritten (sog. „Opt-out“).
Von den Arzneimitteln mit Erstattungsbetrag weisen 62 % wenigstens in einer Patientengruppe einen Zusatznutzen auf (165 von 265), die Mehrzahl davon sogar für das gesamte Arzneimittel (91). Die übrigen 74 Arzneimittel dieser Gruppe weisen hingegen lediglich teilweise einen Zusatznutzen auf, sodass für sie ein angemessener Mischpreis zwischen den Vertragspartnern vereinbart werden muss, der einerseits den fehlenden Zusatznutzen mit dem Preisdeckel aus der zweckmäßigen Vergleichstherapie und andererseits den preissteigernden Effekt eines Zusatznutzens berücksichtigt. Für exakt 100 Arzneimittel liegt demnach in keiner Patientengruppe ein Zusatznutzen vor. Für 61 dieser Arzneimittel ohne Zusatznutzen existiert mehr als eine Patientengruppe, woraus die Herausforderung erwächst, etwaige Unterschiede im Preisniveau der zweckmäßigen Vergleichstherapie in den einzelnen Patientengruppen angemessen bei der Findung eines einheitlichen Erstattungsbetrages zu berücksichtigen.
Unterschiedliche Gründe für Marktrücknahmen
Pharmazeutische Unternehmen können nutzenbewertete Arzneimittel mittels der rahmenvertraglich geregelten Option des „Opt-outs“ vom Markt nehmen. Diese zum 1. März 2021 insgesamt zwölfmal genutzte Option ermöglicht es pharmazeutischen Unternehmern, den deutschen Markt ohne Vereinbarung eines Erstattungsbetrages zu verlassen.2 Für weitere 20 Arzneimittel mit Erstattungsbetrag haben die Hersteller mittlerweile alle ursprünglich am Markt erhältlichen Packungen aus den Verzeichnisdiensten gelöscht. Die Gründe für entsprechende Marktrückzüge sind dabei vielfältig. So besteht für mehr als ein Dutzend dieser Arzneimittel bspw. keine Zulassung mehr. Bestimmte Arzneimittel wurden mittlerweile durch wirksamere Produkte am Markt abgelöst, was insbesondere auf dem Markt für Arzneimittel gegen Hepatits C zu beobachten ist. Für wiederum andere Arzneimittel mögen wirtschaftliche Aspekte, also ein seitens des Unternehmens als zu niedrig empfundener Preis oder aber deutlich unterhalb der Erwartung liegende Verkaufszahlen, eine Rolle für den Marktrückzug gespielt haben. Teilweise ändert sich jedoch auch die Einschätzung der betroffenen Unternehmen zur Wirtschaftlichkeit im Zeitverlauf wieder, wie Wiedereintritte im Markt für Antidiabetika und Antiepileptika zeigen.
Zur Ausgabenrelevanz von AMNOG-Arzneimitteln
17.5 und 17.6 stellen die wirtschaftliche Bedeutung von AMNOG-Arzneimitteln im ambulanten Sektor der GKV in Abhängigkeit ihres Zusatznutzens im Zeitraum von 2011 bis 2020 dar. Dabei werden in der oberen Teilgraphik für alle AMNOG-Wirkstoffe die aufsummierten monatlichen Absatzzahlen (gemessen in DDD; Defined Daily Doses) und in der unteren Teilgrafik die entsprechenden monatlichen Umsatzzahlen abgetragen. Insgesamt beliefen sich demnach im Jahr 2020 die GKV-Ausgaben für AMNOG-Arzneimittel brutto auf 14,3 Mrd. €, was einem Anteil an den entsprechenden Gesamtausgaben von etwa 28 % entspricht.
Arzneimittel mit gemischtem Zusatznutzen weisen demnach die größte Versorgungsrelevanz für die GKV auf. Im Jahr 2020 lag ihr Anteil an verordneten DDDs bezogen auf alle abgegebenen AMNOG-Arzneimittel bei 73 % und ihr Umsatzanteil immerhin bei 53 %. Es folgen Arzneimittel ohne Zusatznutzen mit einem 19 %igen DDD- und 23 %igen Umsatzanteil. Orphan Drugs standen im Jahr 2020 zwar lediglich für 0,85 % DDD-Anteil, aber für 16,3 % des mit AMNOG-Produkten erzielten Umsatzes (2,3 Mrd. €). Somit liegt ihr Umsatzanteil im Jahr 2020 bereits 19,3-mal über ihrem Verordnungsanteil. Dieser Faktor nahm in den vergangenen Jahren kontinuierlich zu. So betrug der Orphan-Drug-Umsatzanteil bei 1,0 Mrd. € Umsatz im Jahr 2017 noch das 16,3-Fache des Absatzanteils, stieg dann 2018 auf das 16,9- (Umsatz: 1,3 Mrd. €) und 2019 auf das 18,1-Fache (Umsatz: 1,8 Mrd. €). Auch dies zeigt, dass die Kostenexplosion von Orphan Drugs ein immer gravierenderes Problem für die GKV-Arzneimittelausgaben darstellt.
Neue Arzneimittel sind ab dem ersten Tag des Marktzugangs in Deutschland erstattungsfähig. Der nutzenorientierte AMNOG-Erstattungsbetrag gilt jedoch erst ab dem zweiten Jahr nach Inverkehrbringen, sodass Arzneimittel im ersten Vertriebsjahr völlig losgelöst von ihrem Zusatznutzen für Patientinnen und Patienten bepreist werden dürfen. Die entgangenen Einsparungen für Arzneimittel ohne einen in der Erstbewertung im G-BA festgestellten Zusatznutzen addieren sich seit 2011 auf inzwischen 647 Mio. €. Für Arzneimittel mit Zusatznutzen über alle Patientengruppen beläuft sich der Wert auf 547 Mio. €, bei Arzneimitteln mit einem gemischten Bewertungsergebnis auf 276 Mio. €. Somit sind der GKV durch diese gesetzliche Regelung in den letzten zehn Jahren des AMNOG knapp 1,5 Mrd. € an vermeidbaren Mehrausgaben entstanden.
Die mit dem Arzneimittelversorgungsstärkungsgesetz (AMVSG) 2017 eingeführte Öffnung der Kosten-Obergrenze für Arzneimittel ohne Zusatznutzen „im begründeten Einzelfall“ zeigt in der Praxis Wirkung. So wird bei Arzneimitteln ohne Zusatznutzen mit mehreren Alternativen in der zweckmäßigen Vergleichstherapie heutzutage regelmäßig eine Diskussion zur Gleichwertigkeit der Alternativen geführt. Auch die Schiedsstelle nach § 130b Abs. 5 SGB V hat in der Vergangenheit bereits Erstattungsbeträge festgesetzt, die oberhalb der wirtschaftlichsten Alternative der zweckmäßigen Vergleichstherapie lagen (vgl. Schiedsverfahren zu Opicapon AZ 130b-Sst. 13–17). Vor diesem Hintergrund werden Abweichungen von der zweckmäßigen Vergleichstherapie auch in den Erstattungsbetragsverhandlungen teilweise akzeptiert und finden in verschiedenen Varianten ihre Umsetzung. Über alle Verfahren mit fehlendem Zusatznutzen in der Zeit vom 13.05.2017 (Inkrafttreten des AMVSG) bis 01.03.2021 betrachtet zeigt sich, dass der Erstattungsbetrag in zwei Drittel aller Fälle die Kosten der wirtschaftlichsten Alternative der zweckmäßigen Vergleichstherapie übersteigt (Abb. 17.7). Somit sorgt diese Lockerung der Kosten-Obergrenze zum einen dafür, dass die Ausgaben für Arzneimittel ohne Zusatznutzen auf ein nicht nutzenadäquates Niveau steigen. Zum anderen stellen sich zusätzlich preissteigernde Zweitrundeneffekte ein, da andere AMNOG-Wirkstoffe im gleichen Anwendungsgebiet dann von diesem entsprechend höheren Preissockel preislich profitieren können. Beide Effekte konterkarieren den AMNOG-Leitgedanken, dass der Preis dem Nutzen folgt, weshalb diese Lockerung wieder zurückgenommen werden sollte.

17.3 AMNOG als lernendes System

Geltungsbeginn des Erstattungsbetrages ohne gesetzliche Vorgabe zum Geltungsbeginn
Der Gesetzgeber gibt vor, dass der zu vereinbarende Erstattungsbetrag eines neuen Wirkstoffs erst ab dem zweiten Jahr gilt. Im ersten Jahr darf der Unternehmer sein Produkt hingegen zu einem frei gewählten Preis vermarkten. Für Verhandlungen, die auf Basis einer Nutzenbewertung zu einem neuen Anwendungsgebiet geführt werden, legte der Gesetzgeber analog fest, dass in den ersten zwölf Monaten nach dem auslösenden Ereignis (hier also der Zulassung, die eine Vermarktung des Arzneimittels im neu zugelassenen Anwendungsgebiet ermöglicht) zunächst einmal der alte Preis (hier also der zuvor vereinbarte Erstattungsbetrag) weiter gelten solle und erst ab dem ersten Tag des 13. Monats nach dem auslösenden Ereignis der neue Erstattungsbetrag gilt. Dieses gesetzliche Prinzip „Auslösendes Ereignis + 12 Monate“ überführte die Schiedsstelle in den Verfahren zu Nintedanib (Ofev®) und Radium-223-dichlorid (Xofigo®) auch auf die Verhandlungsgrundlagen „Neubewertung eines Orphan Drugs nach Überschreiten der 50 Mio. €-Umsatzschwelle“ und „Neubewertung auf Grundlage neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse“. Bei Nintedanib (Ofev®) wurde als auslösendes Ereignis das Datum der Überschreitung der 50 Mio. €-Umsatzschwelle und bei Radium-223-dichlorid (Xofigo®) das Datum des Beschlusses des G-BA, in welchem er den pharmazeutischen Unternehmer zur Einreichung eines Dossiers aufforderte, festgelegt. In der Vergangenheit einigten sich die Vertragspartner hingegen regelmäßig auf den ersten Tag des siebten Monats nach Datum des G-BA-Beschlusses als Geltungsbeginn des Erstattungsbetrages. Dieses Datum liegt regelmäßig zeitlich nach dem Datum, welches sich auf Basis des durch die Schiedsstelle festgelegten Prinzips „auslösendes Ereignis + 12 Monate“ ergibt. Die Schiedssprüche führen folglich dazu, dass im Falle einer Preisanpassung etwaige Nacherstattungszeiträume länger werden: Im Falle einer Anhebung des Erstattungsbetrages zugunsten des pharmazeutischen Unternehmers und im Falle einer Absenkung des Erstattungsbetrages zugunsten der Krankenkassen. Zum Stichtag 1. März 2021 lassen sich die monetären Konsequenzen dieser Entscheidung erst für fünf Verfahren abschließend ermitteln. Summiert man die jeweils höheren Nacherstattungsansprüche der Krankenkassen und der pharmazeutischen Unternehmer im Vergleich zum Status quo ante gegeneinander auf, weisen derzeit die Krankenkassen eine Erhöhung ihrer Nacherstattungsansprüche um 8,5 Mio. € auf. Vor dem Hintergrund, dass ausweislich der Abb. 17.2 zuletzt etwa 30 % aller Verhandlungen eine Verhandlungsgrundlage ohne konkrete gesetzliche Bestimmung des Geltungsbeginns des Erstattungsbetrages aufwiesen, wird dieser Festlegung der Schiedsstelle auch in Zukunft eine wichtige Bedeutung zukommen.
Erstattungsbetrag im Krankenhaus
In den ersten Jahren nach seinem Inkrafttreten blieb unklar, welche rechtliche Bindungswirkung das AMNOG-Verfahren auf die Arzneimittelversorgung im stationären Sektor ausübt. Dies änderte sich jedoch durch das im Jahr 2017 in Kraft getretene GKV-Arzneimittelversorgungsstärkungsgesetz (AMVSG). Dieses stellte klar, dass Arzneimittel auch im stationären Sektor höchstens zu dem zwischen pharmazeutischem Unternehmer und GKV-Spitzenverband vereinbarten Erstattungsbetrag abgegeben werden dürfen. Die steigende Relevanz des Erstattungsbetrages für den stationären Sektor wird u. a. auch dadurch deutlich, dass ausweislich der Daten nach § 21 Krankenhausentgeltgesetz (KHEntgG) allein im Jahr 2019 knapp 740 Mio. € für AMNOG-regulierte Arzneimittel ausgegeben wurden. Diese Ausgaben verteilten sich auf insgesamt 98 Wirkstoffe. Der Anstieg der Ausgaben für AMNOG-Produkte betrug somit im stationären Sektor gegenüber 2018 ca. 40 %. Leider liegen dem GKV-Spitzenverband zum derzeitigen Zeitpunkt noch keine Daten für das Jahr 2020 vor, sodass der zu erwartende Kostenanstieg durch Einmal-(Gen)therapien in diesen Daten noch nicht enthalten ist. Ein Indiz für die hohe Kostendynamik bei Gentherapien stellt jedoch beispielsweise die Feststellung des G-BA vom 3. Dezember 2020 dar, wonach der Umsatz für das Orphan Drug Onasemnogen-Abeparvovec (Zolgensma®) bereits ca. ein halbes Jahr nach der entsprechenden Zulassung mehr als 50 Mio. € erreicht hatte. Lediglich die Wirkstoffe Nivolumab, Pembrolizumab und Nusinersen erreichten im Jahr 2019 ebenfalls einen über entsprechende (NUB-)Entgelte (NUB: Neue Untersuchungs- und Behandungsmethoden) ermittelbaren Umsatz von mehr als 50 Mio. € im stationären Sektor.
17.1 stellt die Häufigkeit von Wirkstoffen mit abgerechneten (NUB-)Entgelten sowie Gesamtumsatz dieser Wirkstoffe je Therapiegebiet dar.
Tab. 17.1
Wirkstoffe und Umsätze von AMNOG-Wirkstoffen im stationären Sektor (Quelle: Eigene Auswertung der Daten nach § 21 KHEntgG)
Therapiegebiet
Anzahl Wirkstoffe
Anteil der Wirkstoffe je Therapiegebiet an allen Wirkstoffen mit (NUB-)Entgelt in %
Ausgaben aller Wirkstoffe innerhalb eines Therapiegebiets in Mio. €
Anteil Ausgaben je Therapiegebiet in %
Onkologische Erkrankungen
61
62
403,3
55
Krankheiten des Nervensystems
3
3
285,3
39
Stoffwechselkrankheiten
7
7
19,0
3
Infektionskrankheiten
8
8
7,3
1
Hauterkrankungen
5
5
1,6
0
Andere
14
14
23,2
3
Summe
98
100
739,7
100
Arzneimittel-Kompass 2021
Aus Tab. 17.1 geht klar hervor, dass mit 62 % die allermeisten AMNOG-Arzneimittel mit einem (NUB-)Entgelt dem Therapiegebiet „onkologische Erkrankungen“ zuzurechnen sind und auch mit 55 % der Großteil der Ausgaben auf Onkologika entfällt. Dem Therapiegebiet „Krankheiten des Nervensystems“ fällt im stationären Sektor mit 39 % Ausgabenanteil ebenfalls eine bedeutsame Rolle zu. Dies liegt insbesondere an hohen Umsätzen des Wirkstoffs Nusinersen (Spinraza®). Folgerichtig stellte auch der G-BA im Jahr 2020 fest, dass die Jahresumsätze des Orphan Drugs Nusinersen den Schwellenwert von 50 Mio. € überschritten hatten. Dies hatte zur Folge, dass für Nusinersen eine Vollbewertung (ohne gesetzliche Orphan-Privilegierung) durchgeführt und für Mitte Mai 2021 eine Beschlussfassung erwartet wird.
Somit entfallen 93 % aller Ausgaben für (NUB-)Entgelte von AMNOG-geregelten Arzneimitteln auf die beiden Therapiegebiete „Onkologische Erkrankungen“ und „Krankheiten des Nervensystems“. Die übrigen 34 Wirkstoffe mit NUB-Entgelt vereinen nur noch 7 % der entsprechenden Ausgaben auf sich.

17.4 Fazit

Die Nutzenbewertung und die Preisverhandlungen bewegen sich weiterhin in einem dynamischen Umfeld. So steigt die Zahl der jährlich durchgeführten G-BA-Bewertungen tendenziell weiter an und entsprechend auch die daran anschließenden Verhandlungsserien zum Erstattungsbetrag. Der Umsatz von AMNOG-Arzneimitteln wächst weiterhin stark an, zunehmend auch im stationären Sektor. Insbesondere die Nutzenbewertung und die auf deren Basis ermittelten Erstattungsbeträge von Orphan Drugs zeigen die Grenzen des derzeitigen Systems deutlich auf. Hieraus erwächst der Bedarf, das AMNOG im Hinblick auf die aktuellen Herausforderungen weiterzuentwickeln, um auch in Zukunft aussagekräftige Bewertungen zum Zusatznutzen neuer Arzneimitteltherapien zu ermöglichen und dabei die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der GKV zu bewahren.
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Fußnoten
1
Weitergehende Informationen zur rechtlichen Sonderstellung von Orphan-Arzneimitteln s. Kap.​ 8.
 
2
Zum 1. Mai 2021 wurde zusätzlich auch für den Wirkstoff Alpelisib ein „Opt-out“ an die IFA-Datenbank gemeldet.
 
Metadaten
Titel
AMNOG: Ziel, Funktionsweise und Ergebnisse
verfasst von
Dr. Daniel Erdmann
Dr. Wiebke Wittmüß
Jörn Schleeff
Copyright-Jahr
2021
Verlag
Springer Berlin Heidelberg
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-662-63929-0_17