Lernziele
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können Sie die häufigsten Ursachen der Altersepilepsie nennen.
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erkennen Sie klinische Zeichen, die auf einen epileptischen Anfall bei älteren Patienten hindeuten können.
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kennen Sie wichtige Differenzialdiagnosen der Epilepsie und deren Diagnostik.
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können Sie grundlegende Überlegungen zur Wahl des geeigneten Antiepileptikums bei älteren Patienten anstellen.
Einleitung
Ursachen epileptischer Anfälle bei älteren Patienten
Zerebrovaskuläre Erkrankungen und Altersepilepsie
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Zerebrovaskuläre Erkrankungen sind die häufigste zugrunde liegende Ursache der Altersepilepsie.
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Patienten mit Epilepsie im Alter haben auch im Fall keiner zerebrovaskulären Ursache der Epilepsie ein erhöhtes Risiko, einen Schlaganfall zu erleiden; Risikofaktoren sollten somit engmaschig kontrolliert werden.
Demenz und Altersepilepsie
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Patienten mit Demenz, insbesondere DAT und vaskulärer Demenz, weisen ein erhöhtes Risiko auf, eine Epilepsie zu entwickeln, jedoch ist auch das Risiko der Entwicklung kognitiver Defizite und Demenz bei Epilepsiepatienten erhöht.
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Kognitive Einschränkungen sind insbesondere bei TLE häufig und oft der am stärksten die Lebensqualität einschränkende Faktor.
Herausforderungen in der Diagnostik
Wichtigste Differenzialdiagnosen
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Epileptische Anfälle beim älteren Patienten präsentieren sich häufig in Form fokal nicht bewusst erlebter Anfälle mit kognitiver Symptomatik (Aphasie, Verwirrtheit) und Arrest ohne prominente motorische Phänomene, sodass die Diagnosestellung oft verzögert erfolgt.
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Die Basisdiagnostik in der Abklärung unklarer passagerer Bewusstseinsstörungen umfasst neben der Labordiagnostik (einschl. Elektrolyten, Blutzucker, Nieren- und Leberfunktionsparametern) eine internistische Untersuchung (EKG, Blutdruck, ggf. Echokardiographie und Langzeit-EKG), eine Bildgebung des Schädels (akut mithilfe der CT, bei unklarer Befundlage und Verdacht auf epileptische Genese eine MRT nach Epilepsieprotokoll) und ein EEG.
Status epilepticus
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Der SE ist ein akuter neurologischer Notfall, der mit hoher Morbidität und Mortalität einhergeht und rasche medikamentöse Behandlung erfordert.
Herausforderungen in der Therapie
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Antiepileptika sollten bei alten Menschen vordergründig hinsichtlich der Verträglichkeit ausgewählt werden, wobei Medikamente mit Interaktionsrisiko sowie negativen Auswirkungen auf Stoffwechselleistung oder Kognition vermieden werden sollten.
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Das Credo ist auch in der Behandlung mit Antiepileptika beim alten Patienten „start low, go slow“, um die Verträglichkeit zu erhöhen, wobei auch geringere Zieldosen bereits eine ausreichende Wirksamkeit zeigen können.
Häufig verwendete Antiepileptika: Carbamazepin, Lamotrigin, Levetiracetam
Carbamazepin (CBZ) | Levetiracetam (LEV) | Lamotrigin (LTG) | |
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Wirkmechanismus | Schnelle Inaktivierung spannungsabhängiger Natriumkanäle | Bindet an das synaptische Vesikelprotein SV2A | Inaktivierung spannungsabhängiger Natriumkanäle |
Bioverfügbarkeit | Nahezu 100 % | 100 % | 100 % |
Maximale Plasmakonzentration (Cmax) | Bei Retardpräparat nach 12 h (4–24 h) | Nach 1,3 h | – |
Proteinbindung (%) | 70–80 | < 10 | 55 |
Verteilungsvolumen (l/kg) | 0,8–1,9 | 0,5–0,7 | 0,92–1,22 |
Eliminations-HWZ | Nach Einzeldosis 36 h, durch Autoinduktion nach mehrfachen Gaben 16–24 h | 7 ± 1 h Bei älteren Patienten um 40 % verlängert: 10–11 h | 33 h (14–103 h) |
Primäre Eliminationsroute | In der Leber durch Oxidation zum aktiven Metaboliten Carbamazepin-10,11-epoxid metabolisiert, Autoinduktion von CYP3A4 → raschere Elimination nach 3 bis 4 Wochen Behandlungsdauer 70 % renal, 30 % Fäzes | 95 % unverändert renal | Glucuronidierung in der Leber zu inaktiven Metaboliten, Ausscheidung renal |
Potenzielle Interaktionen | Starker Induktor von CYP3A4, zusätzlich Induktion von CYP1A2, CYP2C9, CYP2C19, UGT | LEV verringert Methotrexat-Clearance | VPA hemmt Glucuronidierung von LTG → erhöhte LTG-Wirksamkeit CBZ, PHT, orale Kontrazeptiva (Ethinylestradiol-Levonorgestrel-Kombinationspräparate) Rifampicin, Lopinavir/Ritonavir → reduzierte LTG-Wirksamkeit |
Notwendigkeit der Dosisanpassung | Keine Dosisanpassung bei älteren Patienten | Bei älteren Patienten bis zu 40 % reduzierte Clearance Niereninsuffizienz: < 30 ml/min und 1,73 m2KOF 250–500 mg 2‑mal tgl. Bei Dialysepflichtigkeit 500–1000 mg einmal tgl. + 250–500 mg nach Dialyse | Keine Dosisanpassung bei älteren Patienten 50 %ige Reduktion bei Leberfunktionsstörung der Child-Pugh-Klasse B 75 % ige Reduktion bei Leberfunktionsstörung der Child-Pugh-Klasse C |
Initialdosis | 100–200 mg in 2 ED, Dosissteigerung um 100 mg/Woche | 500 mg TD in 2 ED, nach 1 Woche 1000 mg TD | 25 mg/Tag, Dosiserhöhung um 25 mg alle 2 Wochen Cave: bei Kombinationstherapie mit VPA Dosiserhöhung um 12,5 mg/Woche |
Zieldosis | Max. 1200 mg | 1000–(3000 mg) | 100–200 mg |
Besondere Nebenwirkungen | Hyponatriämie, Leukopenie > Thrombopenie, Schwindel, Diplopie, Kopfschmerzen, Ataxie, Tremor, Übelkeit Allergische Reaktionen: HLA-B*1502 (+HLA-A*3101) stellt einen Risikofaktor für das Auftreten allergischer Reaktionen dar (in der Han-chinesischen oder thailändischen Bevölkerung) | Reizbarkeit, Irritabilität, Konzentrationsstörungen | Allergische Reaktionen (Stevens-Johnson-Syndrom 1:1000) abhängig von der Geschwindigkeit der Aufdosierung |
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In der Behandlung älterer Patienten mit Epilepsie sind LEV und LTG dem CBZ retard bei vergleichbarer Wirksamkeit hinsichtlich der Verträglichkeit überlegen.
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Enzyminduzierende Antiepileptika (CBZ, OXC, PHT) sollten aufgrund ihres Interaktionsrisikos, negativer Auswirkungen auf vaskuläre Risikofaktoren sowie Knochenstoffwechsel bei älteren Patienten vermieden werden.
„Neuere“ Antiepileptika: Lacosamid, Eslicarbazepinacetat, Perampanel und Brivaracetam
Eslicarbazepinacetat (ESL) | Brivaracetam (BRV) | Lacosamid (LCM) | Perampanel (PER) | |
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Wirkmechanismus | Langsame Inaktivierung spannungsabhängiger Natriumkanäle Inhibition spannungsabhängiger Kalziumkanäle (Cav3.2) | Bindet an synaptisches Vesikelprotein (SV2A) | Langsame Inaktivierung spannungsabhängiger Natriumkanäle Bindet an CRMP‑2 | Selektiver nonkompetitiver AMPA-Rezeptor Antagonist (antiglutamaterg) |
Bioverfügbarkeit (%) | Oral > 90 | Oral ≈ 100 I.v. 100 | Oral ≈ 100 I.v 100 | Oral ≈ 100 |
Maximale Plasmakonzentration (Cmax) | 2–3 h | 1 h (durch fettreiche Nahrung verzögert) | 0,5–4 h, unabhängig von Nahrungsaufnahm | – |
Proteinbindung (%) | 30 46 % konzentrationsunabhängige Bindung an Blutzellen ↓ Bei älteren Patienten und Leberversagen, Niereninsuffizienz, Hypoalbuminämie | ≤ 20 Reduziert bei älteren Patienten und Hypoalbuminämie | < 15 Reduziert bei älteren Patienten und Leberversagen, Niereninsuffizienz Hypoalbuminämie | 95 Reduziert bei älteren Patienten und Leberversagen, Niereninsuffizienz, Hypoalbuminämie |
Verteilungsvolumen (l/kg) | 2,7 Erhöht bei älteren Patienten | 0,5 Hohe Membranpermeabilität aufgrund der Lipophilie Erhöht bei älteren Patienten und Leberfunktionsstörung | 0,5–0,8 Erhöht bei älteren Patienten, Leberfunktionsstörung und Hypoalbuminämie | 1,1 Erhöht bei älteren Patienten, Leberfunktionsstörung und Hypoalbuminämie |
Eliminations-HWZ | 20–24 h Keine Autoinduktion | 6–11 h Gering erhöht bei älteren Patienten | 12–16 h Erhöht bei älteren Patienten mit 10- bis 35 %iger Zunahme der Plasmakonzentration > 65 Jahre | 105 h Effektive HWZ 48 h Erhöht bei Leberfunktionsstörung (mild 306 h, mäßig 295 h) |
Primäre Eliminationsroute | Hydrolytische Metabolisierung zum aktiven Metaboliten Eslicarbazepin; Metaboliten 90 % renal ausgeschieden | 95 % renale Ausscheidung Metabolisierung durch Hydrolyse und Hydroxylierung, < 10 % unverändert renal | 95 % renale Ausscheidung, teilweise unverändert und teilweise nach O‑Methylierung | 30 % renal, 70 % hepataler Metabolismus durch CYP3A4 und CYP3A5 |
Potenzielle Interaktionen | Schwacher Induktor für CYP3A4 und UGT1A1 Inhibitor CYP2C19 | Rifampicin senkt BRV-Serum-Spiegel um ca. 45 % BRV erhöht die Serumkonzentration von Carbamazepin-10, 11-epoxid | Enzyminduktoren senken Serumspiegel um 15–20 % | Enzyminduktoren reduzieren Serumspiegel bis zu 50 %: Clearance gesteigert durch PHT (1,7-fach), CBZ (2,7-fach), OXC (1,9-fach) PER erhöht OXC-Spiegel um 33 % Ketoconazol verlängert die HWZ um ≈ 15 % PER reduziert Levonorgestrel dosisabhängig (44 %) |
Notwendigkeit der Dosisanpassung | Keine altersabhängige Dosisanpassung notwendig Bei Niereninsuffizienz: Kreatinin-Clearance 30–60 ml/min Initialdosis 200 mg Kreatinin-Clearance < 30 ml/min Anwendung nicht empfohlen | Keine altersabhängige Dosisreduktion notwendig Bei Leberfunktionsstörung Dosisreduktion, maximale TD 150 mg in 2 ED | Keine altersabhängige Dosisreduktion notwendig Bei schwerer Niereninsuffizienz mit Kreatinin-Clearance < 30 ml/min maximale TD 250 mg Bei mäßiger Leberfunktionsstörung maximale TD 300 mg Bei schwerer Leberfunktionsstörung nicht empfohlen | Keine Dosisreduktion bei älteren Patienten notwendig, jedoch bereits niedrigere Zieldosen wirksam Bei leichter bis mäßiger Leberfunktionsstörung maximale TD 8 mg Bei schwerer Leberfunktionsstörung nicht empfohlen |
Initialdosis | 400 mg einmal tgl. (abends) | 50 mg/Tag in 2 ED | 100 mg in 2 ED | 2 mg einmal tgl., abends direkt vor dem Zubettgehen |
Zieldosis | 1200 mg einmal tgl. | 200 mg/Tag in 2 ED | 400–(600) mg | 8–10 mg, bei älteren Patienten bereits 6 mg wirksam |
Besondere Nebenwirkungen | Hyponatriämie, Verlängerung des PR-Intervalls, Gewichtszunahme, allergische Reaktionen: HLA-B*1502-Allel assoziiert mit erhöhtem Risiko eines Stevens-Johnson-Syndroms | Inappetenz, Reizbarkeit, Depression, Schwindel, Somnolenz | Schwindel, Kopfschmerzen, Diplopie, Übelkeit Verlängerung des PQ-Intervalls | Schwindel, Gangstörung, Müdigkeit, Reizbarkeit |
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Neue Antiepileptika (LCM, ESL, BRV, PER) weisen teilweise andere Wirkmechanismen sowie ein geringeres Interaktionsrisiko auf, was zu besserer Verträglichkeit auch bei älteren Patienten führen kann.
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Die Datenlage zur Anwendung neuer Substanzen bei älteren Patienten, insbesondere im Hinblick auf Kognition, vaskuläre Risikofaktoren, Knochenstoffwechsel etc. ist noch begrenzt.
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Lacosamid ist ein bereits langjährig erprobtes, gut und rasch wirksames Antiepileptikum, das auch bei älteren Patienten gute Wirksamkeit und Verträglichkeit aufweist. Eine EKG-Untersuchung vor der Therapieeinleitung und im Verlauf sollte zum Ausschluss eines AV-Blocks erfolgen.
Fazit für die Praxis
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Epileptische Anfälle sind beim älteren Menschen häufig und stellen oft das Symptom einer akuten zerebralen Schädigung z. B. im Rahmen eines Schlaganfalls dar. Das rechtzeitige Erkennen und die rasche Abklärung hinsichtlich zugrunde liegender Ätiologie sind für Behandlung und Prognose entscheidend.
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Zerebrovaskuläre Erkrankungen stellen die häufigste Ursache der Altersepilepsie dar, wobei neben der Anfallskontrolle eine gute Einstellung vaskulärer Risikofaktoren für das Therapieansprechen und Outcome von Bedeutung ist.
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Durch die klinisch oft nicht eindeutige Präsentation epileptischer Anfälle mit häufigem Fehlen motorischer Entäußerungen ist die korrekte Diagnosestellung erschwert. Bei Verdacht auf epileptische Anfälle sollten die rasche Zuweisung zu einem Neurologen und weitere Abklärung erfolgen, um die Einleitung einer adäquaten Therapie nicht zu verzögern.
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Die Diagnose der Epilepsie stellt für Patienten und Betreuungspersonen häufig eine große Herausforderung dar, und die adäquate Behandlung kann psychosoziale Probleme reduzieren.
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Die medikamentöse Therapie richtet sich bei älteren Patienten vordergründig nach Verträglichkeit und geringem Interaktionsrisiko. Eine niedrige Anfangsdosis, langsames Aufdosieren und das Anstreben der niedrigsten wirksamen Zieldosis steigern die Verträglichkeit und Lebensqualität.