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Publicly Available Published by De Gruyter Oldenbourg October 6, 2020

Entstehung und Befolgung neuer sozialer Normen.

Das Beispiel der Corona-Krise

Emergence of and Compliance with New Social Norms
The Example of the Corona Crisis
  • Andreas Diekmann

    geb. 1951 in Lübeck. Seniorprofessor an der Universität Leipzig (2018–). Professor für Soziologie an der ETH Zürich (2003–2016), Fellow am Wissenschaftskolleg Berlin (2017–2018) und Leiter einer vom Schweizerischen Nationalfonds geförderten Umweltforschungsgruppe an der ETH Zürich (2016–2020). Fellow der European Academy of Sociology und Mitglied der Deutschen Akademie der Wissenschaften Leopoldina. Forschungsgebiete: Theorien sozialer Kooperation, experimentelle Spieltheorie, sozialwissenschaftliche Umweltforschung und die Methodik empirischer Sozialforschung.

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Zusammenfassung

In Krisensituationen müssen Menschen umdenken. Ein kollektiver Lernprozess beginnt und neue Ordnungsmuster entstehen. Externalitäten des Verhaltens führen zur Entstehung neuer sozialer Normen. Doch werden die sozialen Normen auch befolgt? Eine genauere Untersuchung muss dem unterschiedlichen Charakter sozialer Normen Rechnung tragen. Im Anschluss an die Theorie von Ullmann-Margalit (1977) haben Koordinationsnormen oder Konventionen (Lewis 1969) andere Konsequenzen für normorientiertes Verhalten als Kooperationsnormen. Diese Unterscheidung ist auch für die Rechtssetzung von Bedeutung. Denn bei Koordinationsnormen gibt es kein „Trittbrettfahrerproblem“, wohl aber bei Kooperationsnormen. In dem Beitrag wird der Frage nach den Eigenschaften in der Corona-Krise neu entstandener Normen wie Abstandsgebot, Maskenpflicht und die Kooperation beim digitalen „Tracing“ von Infektionsketten nachgegangen. Aus der Analyse folgen Bedingungen, die den Grad der Befolgung von Normen erklären können.

Abstract

In crisis situations, people have to change their behaviour. A collective learning process begins and new patterns of order emerge. Externalities of behaviour lead to the emergence of new social norms. But are the social norms also followed? A closer examination must take into account the different character of social norms. Following the theory of Ullmann-Margalit (1977), coordination norms or conventions (Lewis 1969) have different consequences for norm oriented behaviour than cooperation norms. This distinction is also important for law-making. There is no “free-rider problem” with coordination norms, but there is one with cooperation norms. This paper examines the question of the characteristics of new norms which emerged during the corona crisis, such as the requirement for distance, the obligation to wear masks and cooperation in the digital tracing of infection chains. The analysis leads to conditions which may explain the degree of compliance with new social norms.

1 Einleitung

Die Bedrohung durch das Corona-Virus hat neue Normen hervorgerufen wie Hygieneregeln, Abstandsgebot und das Tragen von Schutzmasken. Auch die Etikette von Begrüßungsritualen hat sich geändert. Händeschütteln ist verpönt; alternative Formen der Begrüßung konkurrieren miteinander. Neue soziale Normen entstehen oft in Zeiten des Umbruchs, in Krisensituationen, denn dann geht es um die Ausbalancierung neu entstandener Interessenkonflikte. Die neuen Normen dienen der Abwehr „negativer Externalitäten“, der Tröpfcheninfektion, die bei jeder Begegnung von zwei oder mehr Personen auftreten kann. Sie sollen die Ansteckungsgefahr vermindern und damit zum Kollektivgut „Schutz der Gesundheit“ beitragen, haben aber zugleich auch Nachteile, indem sie gravierende Einschränkungen des gewohnten Verhaltens auferlegen. Allerdings haben die Normen unterschiedliche Eigenschaften, die auch zu einem unterschiedlichen Maß der Befolgung führen. Mit wachsenden Ängsten vor einer Ansteckung haben sich Abstandsregeln relativ rasch verbreitet. Weshalb galt gleiches nicht für das Tragen von Masken in der Öffentlichkeit? Selbst bei hohen Infektionszahlen waren „Alltagsmasken“ im Einzelhandel, öffentlichen Verkehrsmitteln oder größeren Versammlungen – Anfang März spielte noch die Bundesliga – kaum zu sehen. Dafür wurden auch kulturelle Gründe geltend gemacht. Masken zu tragen passe zur kollektivistischen Kultur asiatischer Gesellschaften; die individualistische Kultur des Westens hemme dagegen die soziale Diffusion der Norm. Erst nach der relativ späten Einführung der Maskenpflicht zeigte sich, dass die weit überwiegende Mehrheit der Menschen doch recht schnell bereit war, ihr Verhalten zu ändern. Umfragen bestätigen zudem die hohe Akzeptanz der Norm trotz „Corona-Protesten“ einer sehr kleinen Minderheit.

Bestimmte Normen setzen sich rasch durch, andere nicht. Eine Erklärung der Emergenz von Normen und des Grads der Befolgung, um die es hier primär geht, erfordert, dass die zugrunde liegende Handlungsstruktur und der jeweilige Typ der Norm identifiziert werden kann. Insbesondere in Situationen sozialer Dilemmas, in denen Eigennutz gerade nicht die allgemeine Wohlfahrt befördert, sind die Aussichten gering, dass auf Freiwilligkeit basierende Normen tatsächlich auch befolgt werden. Anders verhält es sich bei sozialen Normen oder Konventionen, die Verhaltensweisen koordinieren. Eine beispielhafte Arbeit, die auf einfache Bi-Matrixspiele aus der Spieltheorie zurückgreift, ist Mackies (1996) Untersuchung der jahrhundertelangen Persistenz und des plötzlichen Wandels der im alten China weithin praktizierten Norm der Fußbindung. Diese Praxis der grausamen Verstümmelung der Füße junger Mädchen wurde nach der These von Mackie (1996) durch stillschweigende Übereinkunft ohne staatlichen Zwang ausgeübt. Koordinationsnormen wie auch das Rechtsfahrgebot im Straßenverkehr sind selbsterzwingend. Heute bietet die Corona-Krise Anschaungsmaterial, um die Unterschiede zwischen Koordinations- und Kooperationsnormen zu studieren.

Anknüpfend an die klassische Theorie von Ullmann-Margalit (1977) ist das Ziel dieses Beitrags, den unterschiedlichen Charakter der sozialen Normen herauszuarbeiten, die Konsequenzen aufzuzeigen und auf neu in der Corona-Pandemie entstandene Normen zu beziehen. Wie sich im folgenden Abschnitt zeigen wird, ist die Unterscheidung nicht nur eine definitorische Angelegenheit, sondern hat auch Konsequenzen für die Befolgung und Stabilität von Normen. Sie ist auch für die Rechtssetzung von Bedeutung. In Abschnitt 3 werden die Konsequenzen anhand der Verhaltensnormen in der Corona-Krise aufgezeigt und mit vorliegendem empirischem Material belegt. Abschnitt 4 befasst sich mit Tracing Apps, die auf Smartphones installiert über Kontakte mit infizierten Personen informieren sollen. Einige Konsequenzen werden abschließend diskutiert.

2 Arten von Normen: Koordination, Kooperation, Verteilung

„Normträchtige“ Konfliktsituationen lassen sich präzise mit den Mitteln der Spieltheorie beschreiben. In solchen Situationen sind die Handlungen der einzelnen Akteure miteinander verknüpft; das Ergebnis der Handlung eines Akteurs hängt von den Handlungen der anderen Akteure ab. Man kann auch sagen: Jede Handlung eines Akteurs hat negative oder positive Externalitäten zu Lasten oder zum Nutzen anderer Akteure.

Ungeregelte negative (oder auch positive) Externalitäten sind quasi der Nährboden für die Entstehung sozialer Normen[1] (Demsetz 1967; Opp 1983; Coleman 1990; Voss 2001). Coleman (1990) spricht von einem „Bedürfnis nach einer sozialen Norm“. Wenn die Handlung von Ego die Interessen von Alter verletzt, Egos Handlung also aus Sicht von Alter eine negative Externalität darstellt, dann kann der Interessenkonflikt durch eine soziale Norm gelöst werden, die die negative Externalität unterbindet oder kompensiert. Neue soziale Normen entstehen somit a) durch neu auftretende Externalitäten (z. B. zur Regelung der Folgen neuer Technologien) oder b) auch durch die Neubewertung von Handlungen als schädigende, negative Externalitäten (z. B. durch neue Erkenntnisse oder neue Wertprioritäten). Als die Gefahren des Passivrauchens zunehmend in den Blick gerieten, wuchs auch das Engagement für die Regulierung durch Rauchverbote.

Externalitäten sind allerdings weder hinreichend noch notwendig, um soziale Normen hervorzurufen. Auch andere Gründe können zur Entstehung neuer sozialer Normen führen. In Ellicksons (1994) Studien spielt die Verminderung von Transaktionskosten durch soziale Normen eine Schlüsselrolle; bei Posner (2000) signalisieren soziale Normen persönliche Eigenschaften wie z. B. Vertrauenswürdigkeit und Kooperationsbereitschaft. Nicht alle Normen haben ihren Ursprung in der Regulierung von Externalitäten. Piercing, Mode oder demonstrativer Konsum durch Statusgüter sind durch die „Externalitätenhypothese“ nicht erklärbar (Diekmann & Przepiorka 2010; Opp 2018). Außerdem führt allein die Tatsache, dass negative Externalitäten vorliegen, nicht automatisch zur Entstehung und Akzeptanz von Normen (Coleman 1990; Voss 2001). Wenn sich ansteckende Krankheiten wie Masern durch Impfung unter Kontrolle bringen lassen, ist die Einführung einer Impfpflicht wahrscheinlich, aber nicht zwingend. Straßenlärm schädigt die Gesundheit der Anwohner, aber ob es zu einer Begrenzung durch soziale Normen kommt, hängt von Macht und Einfluss der Beteiligten im politischen Prozess ab. Auch andere Faktoren müssen hinzukommen, damit eine Norm durch Rechtsakt oder evolutionär (Opp 1982; Young 1998) entsteht und auf Akzeptanz stößt. Dennoch darf man behaupten, dass Externalitäten sehr häufig den Ausgangspunkt für einen Prozess der Entstehung neuer sozialer Normen bilden.

Das gilt zweifellos für eine neu auftretende Epidemie, gegen die es zunächst keine Immunität in der Bevölkerung gibt. Jede infizierte Person kann das Virus übertragen, und im Falle von Covid-19 weiß der Überträger nicht einmal, dass sie oder er andere Menschen potentiell gefährdet, d. h. die Handlungen negative Externalitäten auslösen können.

Die Analyse miteinander verknüpfter, „interdependenter“ Handlungen ist die Domäne der Spieltheorie. Ein Spielmodell berücksichtigt per definitionem die negativen oder positiven Externalitäten der Akteure. Auch Ullmann-Margalit (1977) geht von einfachen Spielsituationen aus. Dabei ist die Unterscheidung von Koordinationssituationen und Dilemmasituationen und den entsprechenden Spielmodellen zentral. In „reinen“ Koordinationsspielen haben die Akteure völlig übereinstimmende Interessen, allerdings müssen sie ihre Entscheidungen koordinieren, um zu „guten“ Ergebnissen zu kommen. Ein typisches Beispiel ist die Entscheidung im Straßenverkehr, rechts oder links zu fahren. Es gibt für Ego und Alter vier Möglichkeiten: „rechts/rechts“ und „links/links“ sind dabei (Nash-)Gleichgewichte[2] solche, die zweifellos bessere Ergebnisse hervorbringen als ein Kollisionskurs. Die soziale Norm ist eine Festlegung auf eines der Gleichgewichte. Man kann auch von „Konventionen“ sprechen (Lewis 1969). Koordinationsnormen sind demnach soziale Normen, die eines von mehreren Gleichgewichten in einem Koordinationsspiel festlegen. Die Norm muss nicht notwendigerweise durch Setzung seitens einer Instanz zustande kommen. Koordinationsnormen können auch evolutionär entstehen. Tatsächlich sind Rechts- und Linksfahrgebote im Straßenverkehr zunächst evolutionär entstanden, wie Young (1998) anhand von historischen Beispielen demonstriert hat. Koordinationsspiele können auch eine komplexere Struktur haben und eine Vielzahl von Gleichgewichten aufweisen, die unterschiedlich günstig für die Beteiligten ausfallen. Die bereits in Rousseaus Essay „Über die Ursprünge und Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen“ genannte Situation einer gemeinsamen Hirschjagd, eine Parabel auf die Erhöhung der Wohlfahrt durch gesellschaftliches Miteinander, lässt sich als Koordinationsspiel („Hirschjagdspiel“) mit zwei unterschiedlich günstigen Gleichgewichten darstellen (z. B. Diekmann 2016). Höflichkeitsnormen koordinieren die Gleichgewichte beim Passieren eines Engpasses nach Alter oder Geschlecht; eine Verkehrsampel setzt eine soziale Norm, die an einer Kreuzung jeweils ein Gleichgewicht für die Verkehrsteilnehmer „auswählt“. Da dieses „Chickenspiel“ mit unterschiedlichen Akteuren häufig wiederholt wird, erhält jeder „Spieler“ im Durchschnitt die gleiche Auszahlung. Die Norm ist fair und sorgt für optimale Ergebnisse.

Viele Probleme im gesellschaftlichen Miteinander sind allerdings nicht allein durch Koordination zu lösen. In Dilemmaspielen – Paradebeispiel ist das Gefangenendilemma – erzielen die Akteure im Gleichgewicht ein „schlechteres“ Ergebnis als bei wechselseitiger Kooperation.[3] Das Gefangenendilemma ist nur eine Metapher; es gibt zahlreiche unterschiedliche Strukturen sozialer Dilemmas, deren Analyse z. T. höchst differenzierte Modelle erfordert (Raub, Buskens & Corten 2015). Man denke an den Klimawandel; letztlich eine Dilemmasituation mit sehr vielen Akteuren und sehr unterschiedlichen Interessenlagen (die Spielstruktur ist dann komplexer; siehe z. B. Przepiorka & Diekmann 2020). Hier geht es aber um die grundlegenden Prinzipien, so dass einfache Situationen zur Illustration genügen.

Wegwerfen von Abfall, Schwarzfahren, die Verweigerung von Impfung bei ansteckenden Krankheiten, Steuerhinterziehung, Überfischung der Meere und anderes mehr sind nicht-kooperative Strategien in sozialen Dilemmas. Individuell profitieren die Akteure im Vergleich zu kooperativen Personen. Aber insgesamt verlieren alle, wenn sich sehr viele oder alle Akteure der nicht-kooperativen Strategie anschließen. Die individuell rationalen Strategien führen zu einem „schlechten“, ineffizienten Gleichgewicht. Eine Kooperationsnorm weist einen Ausweg aus dem Dilemma. Sie verpflichtet zu kooperativem Verhalten. Allerdings hat jeder Akteur einen Anreiz, die Norm zu verletzen. Erst die Möglichkeit von Sanktionen, eine glaubwürdige Sanktionsdrohung (oder auch positive Sanktion für kooperatives Verhalten), verschafft der Norm Geltung. In spieltheoretischen Termini ermöglicht die Sanktionsdrohung ein kooperatives Gleichgewicht (Abbildung 1). Die Sanktion kann eine soziale Missbilligung, eine Geldstrafe u.a.m. oder auch die intrinsische Bestrafung durch ein schlechtes Gewissen sein.

Der zentrale Unterschied zu Koordinationsnormen ist offensichtlich. Koordinationsnormen sind selbst-erzwingend. Eigentlich bedarf es keiner zusätzlichen Strafdrohung, um das Rechtsfahrgebot durchzusetzen. Die Wahl der Gleichgewichtsstrategie ist im Eigeninteresse und gleichzeitig im kollektiven Interesse.

Bei Kooperationsnormen ist es umgekehrt. In einer Dilemmasituation sind Eigeninteresse und „kollektive Rationalität“ (Rapoport 1988) nicht deckungsgleich. Noch kein Staat hat es geschafft, auf Freiwilligkeit bauend ein Steueraufkommen zu erzielen.[4] Kooperationsnormen zielen darauf, kollektive Rationalität herzustellen. Die Unterscheidung von Koordinations- und Kooperationsnormen ist auch für die politische Praxis bedeutsam. Denn natürlich ist es viel einfacher, Koordinationsnormen durchzusetzen als Kooperationsnormen Geltung zu verschaffen.

Abbildung 1: Kooperationsproblem und KooperationsnormenJe mehr Personen kooperieren, desto höher ist der individuelle Gewinn für jeden Akteur. Ein Trittbrettfahrer erzielt aber immer einen Extragewinn. Dies kann man anhand eines einfachen Beispiels illustrieren (Rapoport 1988). Die Akteure können zwischen K und T wählen. x sei die Anzahl kooperativer Akteure, die K wählen. Die Kosten der Kooperation betragen eine Einheit. Ein kooperativer Akteur erhält K = 2x + 2; ein Trittbrettfahrer T = 2x + 3. T ist eine dominierende Strategie; ein Trittbrettfahrer steht immer besser da, gleichgültig, ob die anderen viel oder wenig kooperieren. Wenden nun alle Akteure die Trittbrettfahrerstrategie an, stellt sich das „defektive“ Gleichgewicht ein. Durch Kooperationsnormen ist es möglich, das kollektive Optimum zu erzielen. Sanktionsdrohungen und die Internalisierung von Normen verschieben die „Trittbrettfahrergerade“ nach unten. Befindet sie sich unter der Kooperationsgeraden, wird das kollektive Optimum zum neuen Gleichgewicht.
Abbildung 1:

Kooperationsproblem und Kooperationsnormen

Je mehr Personen kooperieren, desto höher ist der individuelle Gewinn für jeden Akteur. Ein Trittbrettfahrer erzielt aber immer einen Extragewinn. Dies kann man anhand eines einfachen Beispiels illustrieren (Rapoport 1988). Die Akteure können zwischen K und T wählen. x sei die Anzahl kooperativer Akteure, die K wählen. Die Kosten der Kooperation betragen eine Einheit. Ein kooperativer Akteur erhält K = 2x + 2; ein Trittbrettfahrer T = 2x + 3. T ist eine dominierende Strategie; ein Trittbrettfahrer steht immer besser da, gleichgültig, ob die anderen viel oder wenig kooperieren. Wenden nun alle Akteure die Trittbrettfahrerstrategie an, stellt sich das „defektive“ Gleichgewicht ein. Durch Kooperationsnormen ist es möglich, das kollektive Optimum zu erzielen. Sanktionsdrohungen und die Internalisierung von Normen verschieben die „Trittbrettfahrergerade“ nach unten. Befindet sie sich unter der Kooperationsgeraden, wird das kollektive Optimum zum neuen Gleichgewicht.

Die Unterschiede zwischen Koordinations- und Kooperationsnormen werden in Tabelle 1 übersichtlich dargestellt. Die Befolgung von Kooperationsnormen trägt per definitionem zu einem Kollektivgut bei. Auch die Befolgung von Koordinationsnormen kann gleichzeitig ein Kollektivgut befördern. Beispielsweise erhöhen Koordinationsregeln im Straßenverkehr das Kollektivgut Verkehrssicherheit. Obwohl die Einhaltung im Eigeninteresse liegt, werden auch bei Koordinationsnormen oftmals externe Sanktionen angedroht. Ein Grund dafür ist, dass es immer einige Akteure geben kann, die z. B. situationsbedingt ein Interesse haben, die Koordinationsnorm zu verletzen oder fahrlässig von der Norm abzuweichen. Außerdem kann die wiederholte Handlung in Übereinstimmung mit Koordinationsnormen die Befolgung intrinsisch verstärken (Guala & Mittone 2010). Das durch die Koordinationsnorm festgelegte Gleichgewicht muss nicht immer „effizient“ sein. Gerade bei der evolutionären Entwicklung und Ausbreitung von Normen kann dieser Prozess in die Falle eines „schlechten“ Gleichgewichts führen. Die eingangs erwähnte Analyse der Norm der Fußbindung in China durch Mackie (1996) ist hierfür ein Beispiel.[5]

Tabelle 1:

Eigenschaften von Koordinations- und Kooperationsnormen

Eigeninteresse an Befolgung*

Eigeninteresse an Nicht-Befolgung*

Sanktionen

Typ der Interaktion

Beispiel

Koordinations-norm („Konvention“)

+

Selbstsanktionierend

Koordinationsspiel. Die Norm legt ein Gleichgewicht fest.

Rechtsfahrgebot, Abstandsregel

Kooperations-

norm

+

Extern oder Intrinsisch ist Voraussetzung für Befolgung

Soziales Dilemma: Gleichgewicht(e) sind suboptimal

CO2-Reduktion, Mund-Nasen-Schutz

*Vor Einführung von Sanktionen

Weiterhin kann es Mischformen von Kooperations-, Koordinations- und Verteilungsproblemen geben. Schließlich kann es vorkommen, dass Kooperationsnormen im Eigeninteresse befolgt werden, wenn es – in der Sprache von Olson (1968) – hinreichend starke „selektive Anreize“ gibt. Selektive Anreize können auch von Institutionen gesetzt werden, um ein soziales Dilemma zu entschärfen. Wenn in Tabelle 1 die beiden Arten von Normen gegenübergestellt werden, handelt es sich quasi um „reine“ Koordinations- und Kooperationsnormen. Man könnte auch im Sinne von Max Weber von „Idealtypen“ sprechen.

Ullmann-Margalit (1977) behandelt ferner eine dritte Kategorie sozialer Normen, nämlich Verteilungsnormen.[6] Die Norm „A teilt den Kuchen auf, B wählt aus“ ist ein Musterbeispiel für eine kluge Norm, die quasi automatisch Verteilungsgerechtigkeit realisiert. Das ist in Politik und Wirtschaft nicht garantiert. Es ist klar, dass die Verteilung von Ressourcen im politischen Prozess, bei wirtschaftlichen Aktivitäten, aber ebenso auch im Alltagshandeln von eminenter Bedeutung ist. Hier sei nur so viel gesagt, dass Koordinations- und Kooperationsnormen auch Verteilungsprobleme berühren können. Nicht alle Koordinations- oder Dilemmasituationen sind symmetrisch. Koordinations- und Kooperationsnormen können je nach sozialer Lage oder demografischen Merkmalen unterschiedliche Kosten aufbürden. Das zeigt sich auch in der Corona-Krise. Zudem ist auch die Wahrscheinlichkeit einer Infektion, die Schwere der Krankheit und das Risiko, der Krankheit zum Opfer zu fallen nicht nur vom Alter, sondern auch von der sozialen Lage oder der Zugehörigkeit zu einer Minorität abhängig (Eligon et al. 2020). ‚Demokratisch‘ ist das Virus nicht.

3 Neue Soziale Normen in der Corona-Krise

Nach der weltweiten Ausbreitung der Pandemie haben die meisten Länder rigide Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie ergriffen. Die sogenannten nicht-pharmazeutischen Maßnahmen bestanden aus mehr oder minder strikt verordneten Hygieneregeln, Abstandsgeboten bei Kontakten, Versammlungsverboten, Schließung von Schulen und Geschäften, Kontaktsperren und Reiseeinschränkungen, Maskenpflicht und Nachverfolgung von Infektionsketten mit manuellen oder digitalen Methoden, dazu umfangreichen Testprogrammen. Staaten, die dieses Bündel von Maßnahmen weitgehend und vor allem früh umgesetzt haben, sind bislang mit relativ geringen Gesundheitsschäden und auch relativ geringen wirtschaftlichen Schäden durch die Krise gekommen. Oft zitierte Musterbeispiele sind Taiwan oder Südkorea, in denen Politik und Bevölkerung auch von den Erfahrungen mit vorhergehenden Epidemien profitierten. Ökonometrische Studien, die die Effekte der Maßnahmen systematisch anhand von Längsschnittdaten untersuchen, stehen noch aus. Für eine genauere Evaluierung der Wirksamkeit der Maßnahmen ist es auch noch zu früh, denn die Pandemie ist längst noch nicht vorbei, und eine systematische Untersuchung der kausalen Wirksamkeit einzelner Maßnahmen stellt die Forschung auch methodisch vor Probleme. Gleichwohl gibt es bereits Hinweise auf die Effektivität der Interventionen (z. B. Chu et al. 2020; Dehning et al. 2020).

Kontaktbeschränkungen und Abstandsgebote (von mindestens 1,5 Metern) wurde in Deutschland nach Beratung mit dem Bund von allen Ländern am 22.3.2020 beschlossen. Die einschneidenden Maßnahmen, die zahlreiche Grundrechte beschneiden, werden vom Großteil der Bevölkerung befürwortet (z. B. Wagner et al. 2020). Wurden sie auch befolgt? Dafür gibt es zahlreiche Belege. So zeigen die anonymisierten Daten von Bewegungsprofilen der Mobiltelefone, die die Firma Google veröffentlicht und laufend aktualisiert, neue Verhaltensmuster.[7] Nicht nur in Deutschland, in fast allen der 131 Staaten, für die Google Daten berichtet, sank der Aufenthalt am Arbeitsplatz und an früher populären öffentlichen Orten, während der Aufenthalt in privaten Räumen gewachsen ist. Für Freizeiteinrichtungen, Restaurants, Einkaufen z. B. wird bis zum 29.3.2020 ein Rückgang von 77 % gegenüber dem Median der Vorwochen berichtet. Interessant ist hierbei, dass sich deutliche Verhaltensänderungen bereits vor den Beschlüssen der Länder am 22.3.2020 zeigen. Somit hat die Bevölkerung zu einem erheblichen Teil ihr Verhalten bereits vor den behördlichen Anordnungen auf freiwilliger Basis verändert.

Abstand halten gegenüber anderen und Kontakte vermeiden wurde in zunehmendem Maße praktiziert. Auf die negative Externalität der Ansteckungsgefahr wurde mit Verhaltensänderungen reagiert. Man kann von der Herausbildung einer „latenten Norm“ im Sinne von Wrong (1994) sprechen. Wrong (1994) charakterisiert den Prozess als „expectations that arise concerning habits emerging and crystallizing in the course of repeated interactions” (siehe auch Diekmann & Przepiorka 2016). Zu der Entwicklung „bottom up” risikobewusster Akteure gesellte sich schließlich „top down“ die Entscheidung von Bund und Ländern bzw. der Landesregierungen zum Abstandsgebot, der Mobilitätseinschränkung und später der Maskenpflicht. Die auch mit Sanktionsdrohung versehenen Rechtsnormen wurden von Institutionen gesetzt und für verbindlich erklärt. Neben der Abstandsnorm haben sich andere Verhaltensweisen spontan herausgebildet. Händeschütteln wurde verpönt, neue Begrüßungsformen wie das Anstoßen mit den Ellbögen oder die leichte Verneigung nach japanischem Ritual wurden mehr oder minder spielerisch ausprobiert. Zu beobachten ist eine Emergenz latenter Koordinationsnormen. Dabei kann es leicht zu Normkonflikten kommen. Aufsehen erregten die Fernsehbilder, als Innenminister Seehofer Kanzlerin Merkel den Handschlag bei einem Treffen in Berlin (am 2.3.2020) verweigerte. Ob sich neue Begrüßungsformen herausbilden und womöglich die Jahrhunderte alte Kultur des Handschlags verdrängen, welche alternativen Rituale dabei obsiegen oder nebeneinander koexistieren werden, kann niemand mit Sicherheit prognostizieren. Derzeit lässt sich nur feststellen: Händeschütteln wird mehr oder minder tabuisiert. Hier ist sogar die latente Norm zu einer Unterlassensnorm aufgestiegen, denn schon das Ausstrecken der Hand zur Begrüßung wird vom Gegenüber oft milde sanktioniert.

Die Einhaltung der Abstandsnorm ist nach einer Metaanalyse von Chu et al. (2020) eine der effektivsten Maßnahmen gegen eine Ansteckung bei sozialen Kontakten. Die Koordinationsnorm wurde auf dem Höhepunkt der Epidemie und auch danach in hohem Maße befolgt, wie Online-Umfragen bekräftigen. Mit der Cosmo-Studie (2020) werden seit dem 3.3.2020 wöchentlich ca. 1000 Personen im Alter von 18 bis 74 Jahren befragt. Solche Online-Panels sind zwar meist nicht wirklich repräsentativ, aber sie liefern im Längsschnitt wertvolle Informationen. Denn wenn das Design nicht verändert wird, können auch weniger repräsentative Studien zumindest Trends aufzeigen (zu den Einzelheiten der Methode siehe Cosmo 2020). Dabei zeigt sich, dass ein sehr hoher Anteil angibt, sich die Norm des Abstandsgebots nach eigener Einschätzung zu befolgen. Die Werte liegen hier seit dem 24.3. stabil bei über 90 % und verringern sich nur minimal. Am 5.5. beträgt der Wert noch 89 %. Die Maßnahme wurde verpflichtend von den Ländern mit Beschluss vom 22.3. eingeführt, aber es ist stark zu vermuten, dass sich die meisten Menschen bereits vorher an Distanzregeln gehalten haben. Vor dem 24.3. wurde nicht nach der Abstandsregel gefragt, wohl aber danach, ob die befragte Person Menschenansammlungen meidet. Das war bei der Befragung vom 17.3 nach eigenen Angaben bei 91,4 % der Fall (am 10.3. 65 %).

Die Werte zur Befolgung des Abstandsgebots liegen über einen längeren Zeitraum bei um die 90 %. Anders verhält es sich beim Mund-Nasen-Schutz. Hier geht es vorwiegend um sogenannte Alltagsmasken, seien es OP-Masken oder selbstgefertigte Schutzmasken. Es gab seit Mitte März eine Empfehlung der Bundesregierung, einen Mund-Nasen-Schutz in der Öffentlichkeit aufzusetzen. Die Einführung einer Pflicht mit Bußgelddrohung im Falle der Übertretung wie bei den Distanz-Maßnahmen war zu dem Zeitpunkt noch umstritten. Die Maskenpflicht wurde von allen Ländern erst am 27.4.2020 eingeführt; nur der Freistaat Sachsen und einige Städte wie Jena waren bei dieser Maßnahme vorgeprescht. Die Cosmo-Studie berichtet die Anteile der Befragten, die nach eigenen Angaben „Atemschutzmasken einsetzen“ (Frage bis 7.4., danach „häufig einsetzen“). In der ersten Welle (3.3.) sind es gerade 8 % (Abbildung 2). Dieser Wert steigt auf 34 % in der achten Welle (21.4.) vor Einführung der bundesweiten Maskenpflicht am 27.4. Nach der „Intervention“ steigt der Anteil auf 60 % (28.4.) und eine Woche später auf 77 % (5.5.). Die Maskenpflicht bezieht sich auf Geschäfte und den öffentlichen Nahverkehr. Wer vor Einführung der Pflicht einen Supermarkt besucht hat, wird die Erfahrung teilen können: Nur eine Minderheit hatte eine Maske aufgesetzt. Danach waren es nahezu alle Kundinnen und Kunden. Natürlich hat dazu beigetragen, dass viele Geschäfte schon beim Eingang das Tragen von Mund-Nasen-Schutz forderten und die Einhaltung vom Personal kontrolliert wurde. Das aus asiatischen Ländern gewohnte Bild von Menschen mit Schutzmasken zeigte sich nun auch in deutschen Supermärkten. Anders als das Abstandsgebot war aber das Aufsetzen einer Maske vor der behördlichen Anordnung eher die Ausnahme, erst danach die Regel.

Abbildung 2: Tragen von SchutzmaskenGrafik nach den Angaben über selbstberichtetes Verhalten in der Cosmo-Studie. „Anteil der Personen, die die Maßnahmen einsetzen (bis 07.04.) bzw. mindestens häufig einsetzen (ab 14.04.) (falls anwendbar)“, Cosmo 2020.
Abbildung 2:

Tragen von Schutzmasken

Grafik nach den Angaben über selbstberichtetes Verhalten in der Cosmo-Studie. „Anteil der Personen, die die Maßnahmen einsetzen (bis 07.04.) bzw. mindestens häufig einsetzen (ab 14.04.) (falls anwendbar)“, Cosmo 2020.

Wie kommt es, dass die neuen Normen so unterschiedliche Muster der Befolgung aufweisen? Die Normen der sozialen Distanzierung und speziell das Abstandsgebot wurden sehr rasch in außerordentlich hohem Maße eingehalten; die Norm Mund-Nasen-Schutz zu tragen dagegen erst nach Einführung der Maskenpflicht.

Ein Grund dürfte die unterschiedliche Art der Normen sein. Dazu müssen wir die Interessenkonstellation genauer betrachten. Wer die Abstandsnorm einhält, schützt zunächst einmal sich selbst vor einer Tröpfcheninfektion, gleichzeitig aber auch die andere Person, mit der sie oder er in Kontakt tritt. Beide haben gleichgerichtete Interessen; die soziale Norm des Abstandsgebots dient Ego und Alter – nicht anders als beim Rechtsfahrgebot im Straßenverkehr.

Gleichgerichtete Interessen heißt nicht, dass alle Personen das gleiche Interesse an der Einhaltung der Norm haben. Es dürfte auch vom Risiko abhängen, eine schwere Krankheit zu durchleiden. Dieses steigt bekanntlich mit dem Alter und mit Vorerkrankungen. Während der Hochphase der ersten Welle sind größere Generationskonflikte nicht bekannt geworden. Der jüngere Teil der Bevölkerung war erstaunlich solidarisch mit der älteren Generation. Allenfalls vereinzelte Berichte über „Corona-Partys“ sind in den Medien erschienen. Es ist aber anzunehmen, dass mit der Dauer der Epidemie eine Risikodifferenzierung erfolgt, und zwar sowohl regional als auch bezüglich des Alters. So kann man prognostizieren, dass Abstandsregeln in Regionen mit geringen Infektionsraten weniger eingehalten werden als in Risikogebieten. Weiterhin ist zu erwarten, dass die Befolgung der Norm positiv mit dem Alter korreliert und weiteren Merkmalen, die die Schwere einer Erkrankung erhöhen.

Halten sich die Menschen an die Norm, wird auch die Ausbreitung der Epidemie gebremst. Sie schützt damit auch das Kollektivgut Gesundheit, genauer: Die Verringerung der Ansteckungsgefahr. Anders als in Dilemmasituationen gibt es bei Koordinationsnormen keinen Anreiz zum Trittbrettfahren. Eigeninteresse hindert nicht, sondern befördert die kollektive Wohlfahrt. Welcher Abstand eingehalten werden soll, ist ein Koordinationsproblem. Gleiches gilt für die Form der Begrüßung bei einer persönlichen Begegnung.

Ganz anders beim Maskentragen. Die Botschaft lautet, Alltagsmasken schützen hauptsächlich andere Personen in der Nähe vor einer Tröpfcheninfektion. In welchem Ausmaß sie auch den Träger schützen, ist umstritten. Zudem wird von vielen das Tragen einer Maske als nicht sehr angenehm empfunden und die Masken haben auch einen Preis, der erst mit wachsender Nachfrage gesunken ist. Weltgesundheitsorganisation und Robert-Koch-Institut haben anfangs das Maskentragen in der Öffentlichkeit nicht gefördert. Später wurde kommuniziert, der Eigenschutz sei geringer als der Fremdschutz. Gemäß einer Stellungnahme des Robert-Koch-Instituts schützt der Mund-Nasen-Schutz primär andere Personen vor dem Virus.[8]

Handlungserklärungen müssen, das ist geradezu ein Axiom der Soziologie, die subjektive Perspektive berücksichtigen, die „Situationsdefinition“ der handelnden Akteure (umfassend Esser 1999). Objektive Anreize und Risiken können unterschiedlich wahrgenommen werden. Dies gilt um so mehr, wenn nicht nur bei Laien, sondern auch in der Medizin zumindest zu Beginn der Epidemie die Schutzwirkungen der einfachen „Alltagsmasken“ umstritten waren. So könnte der Selbstschutz stark überschätzt worden sein. Eine „Selbstschutzillusion“, die den Schutz des Trägers priorisiert, wird durch Umfrageergebnisse allerdings nicht gestützt. So zeigt die Cosmo-Studie, dass in der Bevölkerung von Masken mehr Fremdschutz als Eigenschutz erwartet wird (Cosmo 2020).

Beim neuen Corona-Virus ist das Maskentragen besonders deshalb sinnvoll, weil die Krankheit stark ansteckend ist (stärker als Influenza) und vor allem, wie man heute weiß, auch dann ansteckend ist, wenn die infizierte Person keine Symptome verspürt. Diese asymptomatischen Infektionen stellen ein besonderes Risiko für die Mitmenschen dar, denn die Überträger der Krankheit wissen nicht um die Infektion und haben keinen Grund, sich vom sozialen Leben fernzuhalten.

Beim Maskentragen in Situationen, in denen das Abstandsgebot nicht eingehalten werden kann, etwa in Geschäften oder im öffentlichen Nahverkehr, wird das Risiko einer Infektion vermindert, wenn sehr viele, möglichst alle Personen eine Maske tragen. Ähnlich einer Masernimpfung ist eine Person geschützt, wenn alle oder möglichst viele andere sich kooperativ verhalten. Jetzt „lohnt“ sich aber Trittbrettfahren, denn bei einer Normverletzung wird der Schutz durch kooperative Mitmenschen zuteil. Eigeninteresse und kollektives Wohl fallen auseinander, wie in so vielen Situationen in Wirtschaft und Gesellschaft.

Wie beim Umweltschutz oder Organspenden lässt sich auch die Diskrepanz zwischen Einstellung und Verhalten beobachten, die immer wieder thematisiert wird, weil das Kollektivgutproblem eben oft nicht erkannt wird. Vor Einführung der Maskenpflicht wird das Aufsetzen von Schutzmasken beim Einkaufen von mehr als 60 %, im öffentlichen Nahverkehr sogar von mehr als 80 % befürwortet (Wagner et al. 2020). Tatsächlich haben aber sehr viel weniger Kunden und Verkehrsteilnehmer vom Mund-Nasen-Schutz Gebrauch gemacht, wie auch die von Cosmo (2020) ermittelten Zahlen belegen. Erst aufgrund der Maskenpflicht ist die Kooperationsrate steil angestiegen, die Empfehlung hat sich dagegen als wenig verhaltensrelevant erwiesen.

Masken tragen in der Öffentlichkeit an Orten, an denen das Abstandsgebot nicht realisierbar ist, zum Kollektivgut Gesundheit bei. Die soziale Norm ist eine Kooperationsnorm. Im Unterschied zur Koordinationsnorm ist eine Verletzung im Eigeninteresse, sofern sich die anderen Menschen kooperativ verhalten. Statt Rechtsfahrgebot ist es eine Norm vergleichbar mit einem Parkverbot, das das Kollektivgut des knappen öffentlichen Raums schützt. So würde auch ein Appell an die Freiwilligkeit oder eine dringende Empfehlung kaum helfen, dass Autofahrer in Innenstädten Parkverbote befolgen, wenn dies sanktionslos möglich wäre.

Es sei hinzugefügt, dass weitere Gründe für den Verzicht auf das Maskentragen vor Einführung der Pflicht eine Rolle spielen mögen. So war die Botschaft der Behörden zum Maskentragen anfangs eher ablehnend. Nebenwirkungen und Risiken wurden überbetont. Wie schon in Diskussionen über Helmpflicht im Zweiradverkehr wurde das Argument der „Risikokompensation“ herangezogen. Durch das Aufsetzen der Maske würden sich Personen in falscher Sicherheit wiegen und entsprechend riskanter verhalten, war auf der Webseite des Robert-Koch-Instituts zu lesen. Maskenpflicht und Abstandsnorm würden somit im Konflikt stehen. Risikokompensation z. B. bei Motorradhelmen wurde empirisch eindeutig widerlegt (Thompson, Thompson & Rivara 2009).[9] Beim Maskentragen scheint eine Mehrheit in der Bevölkerung aber anzunehmen, dass infolge des Maskentragens die Abstandsregel weniger stark eingehalten wird (Cosmo 2020). Systematische Evidenz über Verhaltensänderungen liegt dazu allerdings nicht vor. Es ist demnach sehr fraglich, ob das Aufsetzen einer einfachen Schutzmaske tatsächlich dazu führt, dass die Abstandsnorm häufiger verletzt wird. Auch Unbequemlichkeit, mangelnde Kenntnis und Gewohnheit könnten das Maskentragen erschwert haben. Wenn nur wenige eine Maske tragen, mag es eher peinlich sein, selbst eine Maske aufzusetzen. Die in asiatischen Ländern in epidemischen Situationen übliche Norm wurde in Europa eher belächelt. Tragen viele Menschen eine Maske, ist es leichter, sich dem Verhalten anzuschließen. Hypothesen und Feldexperimente aus der Sozialpsychologie unterstreichen das Argument. Die Theorie der Normbefolgung (Cialdini et al. 1990) verweist auf den Einfluss deskriptiver Normen. Je mehr Menschen sichtbar eine Norm befolgen, umso eher sind Menschen bereit, sich anzuschließen. Labor- und Feldexperimente zeigen zudem ein hohes Ausmaß prosozialen Verhaltens in der Bevölkerung. Dies ist sicher eine gute Grundlage dafür, dass generell die Bereitschaft vorliegt, Kooperationsnormen zu folgen, wenn weitere Bedingungen gegeben sind. Insbesondere handeln viele Menschen „bedingt kooperativ“, d. h. sie sind bereit, eine Kooperationsnorm zu befolgen, wenn dies auch andere Personen tun (Fischbacher, Gächter & Fehr 2001). Wenn Normverletzungen wie beim Maskentragen leicht erkennbar sind und die Norm akzeptiert wird, kommt es auch zu sozialen Sanktionen der Missbilligung. Allerdings sind Kooperationsnormen fragil, wenn sie nicht verpflichtend sind, nicht internalisiert und keine Sanktionsdrohungen existieren. Bei anfänglich relativ hoher Normbefolgung kommt es leicht zu einer Abwärtsspirale; die Norm erodiert (Fehr und Gächter 2002). Noch nicht etablierte Normen werden sich auf der anderen Seite kaum entwickeln, wenn sich zunächst nur wenige „Außenseiter“ kooperativ verhalten. Deshalb hat die Empfehlung, Masken zu tragen, auch kaum Wirkung entfaltet; erst die Maskenpflicht hat der Kooperationsnorm Geltung verschafft.

4 Tracing Apps als Kollektivgut und „Contribution Game“

Die Tracing App zur anonymen, dezentralen Nachverfolgung von Kontakten mit Virusträgern wurde wiederholt angekündigt. Die App basiert auf der Bluetooth-Technologie und soll Datenschutzbedenken Rechnung tragen. Ziel ist, dass eine Person, die die App auf ihrem Smartphone installiert, gewarnt wird, wenn sie über eine gewisse Zeitspanne in geringer Distanz mit einer infizierten Person Kontakt hatte. Der Vorteil der App ist dabei insbesondere auch die Geschwindigkeit, die rasche Benachrichtigung von Kontaktpersonen.

Im Unterschied zur dezentralen Tracing App werden Tracking Apps mit zentraler Datenspeicherung in China, aber auch in demokratisch verfassten Staaten wie Südkorea oder Island verwendet. In einigen Ländern ist Nicht-Kooperation mit erheblichen Nachteilen verbunden. Die in China entwickelte App war zwar nicht verpflichtend, aber Mobilität zwischen Stadtvierteln oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln war nur mit „grün“ signalisierender App möglich (Ferretti et al. 2020). Das europäische Projekt beruht dagegen auf Freiwilligkeit und Anonymität. Damit erhofft man sich, Vertrauen zu stiften, Datenschutznormen zu erfüllen und eine genügend hohe Kooperation zu erzielen.

Je mehr Menschen die App verwenden, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, zusätzlich zur manuellen Arbeit der Gesundheitsämter Infektionsketten aufzuspüren. Das Ausmaß der allgemeinen Nutzung der App ist mithin ein Kollektivgut, dessen Wert mit der Zahl der Nutzer steigt. Allerdings ist der Anstieg nicht linear, wie es bei den meisten Kollektivgutexperimenten der Fall ist.[10] Die Kooperationsbereitschaft hängt dann aber auch vom Verlauf der „Produktionsfunktion“ des Kollektivguts ab, wie Oliver, Marwell und Teixera (1985) in der „Theory of Critical Mass“ argumentieren.

Abbildung 3: Hypothetische Verläufe der Produktionsfunktion des Kollektivguts
Abbildung 3:

Hypothetische Verläufe der Produktionsfunktion des Kollektivguts

Simulationsstudien nennen einen Schwellenwert von 60 %, in einem weiteren Bericht werden 42 % genannt (University of Oxford 2020a, 2020b). Im Extremfall könnte es sich um eine Stufenfunktion handeln: Unter dem Schwellenwert von x% ist die App wenig hilfreich, über dem Schwellenwert wird die Epidemie eingedämmt (Abbildung 3). Das würde dann bedeuten, dass die Kooperationsbereitschaft einer Person nutzlos wäre, wenn der Schwellenwert nicht erreicht wird. Paradoxerweise wäre der Beitrag auch nutzlos, wenn der Schwellenwert überschritten wird. Den Simulationsmodellen zufolge wird ab Erreichen des Schwellenwerts die Infektion abflauen; weitere Nutzer der App würden dann nur noch einen sehr geringen oder keinen nennenswerten zusätzlichen Beitrag leisten.

„Contribution games“ kennt man, wenn auch nicht unter diesem Namen, bei demokratischen Abstimmungen mit einem Quorum. Bei kleinen Gruppen ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass die eigene Stimme einen Unterschied macht, damit überhaupt ein Ergebnis erzielt wird. Bei großen Gruppen, wie z. B. einem Volksentscheid mit einem Quorum von 20 %, sind alle Stimmen unter 20 % verschenkt; über der Schwelle von 20 % wiederum wird eine einzelne Stimme selten den Ausschlag geben. Die Produktionsfunktion ist eine Stufenfunktion.

So extrem wird die Produktionsfunktion aber nicht verlaufen. Auch die Oxford-Studie macht darauf aufmerksam, dass zumindest die Epidemie gehemmt werden könnte, falls die Beteiligung unter 60 % liegen würde. Vermutlich wird der Verlauf der Produktionsfunktion eher S-förmig sein. Je weiter „links“ der Wendepunkt, desto größer ist offensichtlich der Nutzen der App. Werte von 60 % werden auf freiwilliger Basis auch kaum erreicht. Abgesehen von den zahlreichen technischen Problemen sind bei einer dezentralen, auf Freiwilligkeit basierenden App zudem zwei Hürden zu überwinden. Zunächst muss die App auf dem Smartphone aufgeschaltet werden. Im zweiten Schritt muss aber auch ein infizierter Nutzer die Diagnose angeben, so dass die Kontakte anonym alarmiert werden können.

Es wird nicht leicht sein, zu einer hohen Kooperationsbereitschaft zu motivieren. Im Unterschied zum Maskentragen, zum Abstandsgebot und zur Vermeidung von Menschenansammlungen ist das Aufschalten einer App nicht sichtbar. Soziale Sanktionen wie beim sichtbaren Maskentragen greifen nicht. Kommunikation über das Aufschalten der App in sozialen Netzwerken kann das Verhalten von Freunden und Bekannten erkennbar machen, aber nach außen hin sichtbar – wie das Maskentragen – ist die App nicht. Eine verpflichtende Kooperationsnorm wäre politisch chancenlos, kaum durchsetzbar und würde massiven Widerstand hervorrufen. Man könnte positive Anreize setzen, aber nährt dadurch möglicherweise Misstrauen und zerstört intrinsische Motivation. Man könnte aber die App mit weiteren Funktionen anreichern, etwa anonymisierte Informationen über das Infektionsgeschehen im Umkreis und der Region mitteilen oder andere wichtige Informationen, so dass das Interesse potentieller Nutzer steigen könnte. Immerhin gibt es einen positiven, individuellen Anreiz, die App zu verwenden: Denn der Nutzer wird alarmiert, wenn die Kontaktgeschichte einen infektiösen Kontakt anzeigt. Die meisten Menschen werden diese Information schätzen, weil sie dann die Ansteckungsgefahr in ihrem sozialen Umfeld verringern können. In Umfragen im April 2020 gaben 56 % der Befragten an, eine App zur Nachverfolgung von Corona-Infektionen zu verwenden, wenn sie denn angeboten würde (Wagner et al. 2020). Von der Meinungsäußerung bis zum tatsächlichen Verhalten ist es allerdings bei Kollektivgütern erfahrungsgemäß ein langer Weg.

Die Corona-Warn-App wurde nach Verzögerungen ab dem 16. Juni zur Verfügung gestellt. In der Praxis hat sich gezeigt, dass der Anteil der Bevölkerung, der die Corona-Warn-App herunterlädt, weit unter den Angaben der Umfragen liegt. Dies ist auch nicht überraschend, denn zu der Einstellungs-Verhaltensdiskrepanz kommt hinzu, dass die App nur auf neue Smartphone-Versionen geladen werden kann. Immerhin haben 17,2 Mio. Personen oder 21 % der Bevölkerung in Deutschland die App auf ihrem Smartphone installiert (Stand 17.8.2020, Robert-Koch-Institut 2020b), vermutlich eben auch, weil viele Nutzer interessiert sind, bei einem infektiösen Kontakt alarmiert zu werden. Wie viele Personen konnten nun gewarnt werden? Darüber gibt es aufgrund des einprogrammierten Datenschutzes keine Auskunft. Allerdings kann die Obergrenze aller positiv Getesteten, die potentiell in das System eingespeist werden konnten, angegeben werden. Denn eine positiv getestete Person erhält eine TAN-Nummer, die freiwillig und anonym weitergeleitet werden kann. Die Anzahl der TAN-Nummern beträgt 1679 (Robert-Koch-Institut 2020b), die Anzahl maximal möglicher Warnungen kann höher liegen, da eine infizierte Person mehrere Kontakte haben dürfte. Außerdem könnte die App bei einer eventuell auftretenden zweiten Welle helfen, denn bei einer geringen Infektionsrate sind natürlich auch die über die App gemeldeten Fälle gering. Allerdings ist mittlerweile klar geworden, dass eine Tracing App kein digitales Wundermittel ist. Sie kann aber, insbesondere bei vermehrter Nutzung und steigenden Infektionszahlen, hilfreich sein, um die konventionellen Methoden der Aufspürung von Infektionsketten durch die Gesundheitsämter zu ergänzen.

5 Diskussion

Soziale Normen können sich auf Konfliktsituationen vom Typ Koordination oder Kooperation beziehen. Diese Unterscheidung ist zentral, vor allem weil Koordinationsnormen im Eigeninteresse befolgt, während Kooperationsnormen im Eigeninteresse verletzt werden. Deshalb sind Koordinationsnormen leichter durchsetzbar als Kooperationsnormen. Das Rechtsfahrgebot ist selbsterzwingend, ein Parkverbot dagegen muss überwacht und bei Verletzung sanktioniert werden. Die neue entstandene Norm des Abstandsgebots entspricht eher einer Koordinationsregel, das Aufsetzen von Schutzmasken eher einer Kooperationsnorm. Erst die Verpflichtung zum Maskentragen hat der neuen Norm Geltung verschafft. Aus der zentralen These dieses Artikels folgt auch, dass Empfehlungen und Appelle bei Kooperationsnormen wenig hilfreich sind. Bis zur Einführung der Maskenpflicht Ende April 2020 haben sich Bund, Länder und Robert-Koch-Institut mit Empfehlungen begnügt. Obwohl Deutschland im europäischen Vergleich (bisher) noch relativ gut durch die Krise gekommen ist, hätten durch eine frühere Einführung der Maskenpflicht sehr wahrscheinlich viele Infektionsfälle verhindert werden können.

Auffallend ist auch, wie rasch und stark die Maskenpflicht das tatsächliche Verhalten verändert hat. Nicht selten wurde die kollektive Mentalität der Asiaten gegenüber der individualistischen Einstellung der Europäer vorgebracht, um die unterschiedlichen Verhaltensweisen bei Infektionen zu erklären (z. B. Zheng 2020). Womöglich sind kulturelle Unterschiede aber ein geringeres Hemmnis bei der Wirkung von Interventionen zur Eindämmung der Corona-Pandemie als angenommen. Denn mit der Wahrnehmung der Risiken und der Änderung der Situationsbedingungen wurde die Maskenpflicht sehr schnell akzeptiert und befolgt.

Die Befolgung sozialer Normen hängt natürlich von weiteren Bedingungen ab, wie einer umfangreichen Literatur zu entnehmen ist (z. B. Biccieri 2006; Bicchieri 2017; Cialdini, Reno & Kallgren 1990; Diekmann 1980; Hechter & Opp 2001; Opp 1983, 2020). Hier wurde vor allem mit Blick auf die Corona-Krise ein Aspekt herausgearbeitet: der verhaltensrelevante Einfluss des Typs sozialer Normen. Wer die Wirkung sozialer Normen erforscht, ist gut beraten, zunächst die Handlungsstruktur zu untersuchen. Spieltheoretische Modelle können bei dieser Aufgabe hilfreich sein, um die genaue Struktur der Interaktion aufzuklären. Eine Kernfrage ist dann, ob es sich um eine Handlungsstruktur vom Typ „soziales Dilemma“ oder um ein Koordinationsproblem handelt. Weitere Hypothesen lassen sich ableiten, wenn man die subjektive Wahrnehmung der einzelnen Elemente der Interaktion (die Situationsdefinition) berücksichtigt. Dazu zählen zwei Komponenten: Die Wahrnehmung der in der Handlungsstruktur vorliegenden materiellen und immateriellen Anreize und die Heterogenität der Risikowahrnehmung (der „beliefs“).

Wer kein Risiko für sich wahrnimmt, wird allenfalls aus altruistischen Motiven, dem Schutz von Familie und Bezugspersonen oder wegen Sanktionsdrohungen die neuen Corona-Normen befolgen. Je geringer das Risiko einer Ansteckung wahrgenommen wird, desto geringer ist der Grad der Befolgung der sozialen Normen, insbesondere auch der Koordinationsnormen. Je jünger und je besser die körperliche Verfassung mit Blick auf die Schwere einer möglichen Infektion, desto geringer ist die Neigung, Abstandsgebote einzuhalten. Hinzu kommt die Kontextvariable des Infektionsrisikos in einem Gebiet. Beides dürfte, insbesondere nach dem Abebben der ersten Welle der Infektion, das Verhalten beeinflussen. Schließlich dürfte die Gewöhnung an Risiken eine Rolle spielen, das Risiko wird zur „neuen Normalität“. Damit verbunden ist eine Erosion der Normen im Zeitablauf. Zu erwarten ist, dass mit abnehmenden Infektionszahlen und der regional unterschiedlichen Politik der Öffnung von Wirtschaft und Gesellschaft normorientiertes Handeln schwindet und die Normen erodieren werden.[11]

Die individuelle Hypothese über Risikowahrnehmung, die Kontexthypothese über lokale Infektionsrisiken, die „Erosionshypothese“ der Risikowahrnehmung sowie die Hypothese der Selbstschutzwahrnehmung lassen sich an vorliegenden empirischen Daten testen. Gleiches gilt für die zentrale Hypothese der Unterscheidung von Kooperations- und Koordinationsnormen. Zwar werden in diesem Artikel keine Ergebnisse systematischer Tests vorgelegt, aber empirische Hinweise der Längsschnittdaten des Cosmo-Projekts sprechen für die Kernhypothese.

Beim Maskentragen wurde schon von einer „Selbstschutzillusion“ gesprochen. Ob es wirklich eine Illusion ist, kann beim derzeitigen Stand des Wissens aber nicht mit Sicherheit behauptet werden. Auch das Robert-Koch-Institut, das zunächst vom Maskentragen im Alltag abgeraten, dann aber einen Meinungswandel vollzogen hat, spricht von einem „primären“ Fremdschutz. Der Selbstschutz wird zumindest nicht ausgeschlossen. Dieser ist aber ein „selektiver Anreiz“, der die Neigung eines Akteurs erhöht, in einer Sozialdilemma-Situation kooperativ zu handeln. Neuere Ergebnisse aus einer Metaanalyse deuten an, dass der Selbstschutz doch größer sein könnte als zunächst vermutet (Chu et al. 2020). Diese Befunde sind in hohem Maße relevant für die Gesundheitspolitik. Die Ergebnisse müssen aber auch kommuniziert werden. Denn das Wissen darum verändert die Anreizstruktur zu Gunsten kooperativen Handelns.


Anmerkung

„The risk of severe disease associated with COVID-19 infection for people in the EU/EEA and UK is currently considered moderate for the general population” (EU agency European Centre for Disease Prevention and Control, 13. März 2020). So habe ich auch gedacht, bevor ich mich Mitte März mit den Statistiken über die weltweite Entwicklung vertraut gemacht habe. Bei den sich rasch wandelnden Erkenntnissen ist eine Chronologie angebracht. Dieser Artikel ist aus einem Vortrag hervorgegangen, den ich am 6.5.2020 im WZB-Kolloquium zur Corona-Krise gehalten habe. Das Manuskript wurde am 29.5. eingereicht. Über die Konsequenzen aus der Analyse von Kooperationsnormen, ein nachdrückliches Plädoyer für eine Maskenpflicht, habe ich vor der Einführung der Maßnahme in den Medien geschrieben (Der Freitag, „Für ein Vermummungsgebot“, vom 15.4.20 und in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 21.4.20). Die weitere Entwicklung hat die Prognosen bestätigt. Das gilt auch für die Tracing App, die mit großer Verzögerung erst Mitte Juni eingeführt wurde. Nur der letzte Absatz zur Tracing App musste mit aktuellen Zahlen ergänzt werden (Stand 17.8.20). In sieben anonymen Gutachten wurden zahlreiche Anregungen gegeben, aber auch z. T. heftige Kritik an den theoretischen Grundlagen geübt. Ich bedanke mich bei den Gutachterinnen und Gutachtern. Kritik und Anregungen habe ich, soweit es mir möglich war, versucht aufzugreifen. Alle verbleibenden Mängel gehen natürlich zu meinen Lasten.


About the author

Andreas Diekmann

geb. 1951 in Lübeck. Seniorprofessor an der Universität Leipzig (2018–). Professor für Soziologie an der ETH Zürich (2003–2016), Fellow am Wissenschaftskolleg Berlin (2017–2018) und Leiter einer vom Schweizerischen Nationalfonds geförderten Umweltforschungsgruppe an der ETH Zürich (2016–2020). Fellow der European Academy of Sociology und Mitglied der Deutschen Akademie der Wissenschaften Leopoldina. Forschungsgebiete: Theorien sozialer Kooperation, experimentelle Spieltheorie, sozialwissenschaftliche Umweltforschung und die Methodik empirischer Sozialforschung.

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Published Online: 2020-10-06
Published in Print: 2020-09-25

© 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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